Einst war und ist eine junge Frau, die hatte einen Spiegel.
Jeden Tag schaute sie hinein; ob sie aufgestanden oder vorm Einschlafen, sie sah sich so gerne an.
Sie sah die Menschen auf der Straße, und verglich sie so gerne mit sich selbst, und wo sie auch hinkam, nirgendwo fand sie jemanden so schön und voller Ausstrahlung wie sich selbst. Tausende wollten sie schon verführen, doch nein, niemand schaffte es.
Einst stand sie vorm Spiegel, und sprach mit sich selbst. Oh bin ich denn wirklich das schönste, das beste, das tollste? Und sie antwortete sich selbst: Ja, das bist Du, meine Herrin. Und grinste. Und lachte. Und dachte sich: „Oh, mein seligster Wunsch wäre es, mich ewig so ansehen zu können!“ Und dieses Tages kam sie nicht mehr los von ihrem Spiegel, stand tagelang davor, bis sie schließlich in Ohnmacht fiel.
„Desiree, hallo?“
Langsam wachte sie auf, sie merkte, dass ihre Glieder schmerzten, hörte ein „Biep, Biep“ im Hintergrund, ein ewig gleiches Tönen, sie schlug die Augen auf und alles war ununterscheidbar, in ihrem Inneren fühlte es sich an, als würde es brennen, sie konnte ihren Kopf kaum bewegen und sah nur, wie sich jemand über sie beugte.
„Desiree …“
Sprechen wollte sie nicht, konnte sie nicht, doch hören tat sie, auch wenn sie den Sinn nicht verstand.
„Desirree, falls Du mich verstehst, wir sind in einem Krankenhaus. Desiree, falls Du mich verstehst, wir sind in einem Krankenhaus. Desiree, falls Du mich verstehst, wir sind in einem Krankenhaus.“
Stets dasgleiche, immer wieder.
„Biep, Biep, Biep, Biep.“
„Desiree, falls Du mich verstehst, wir sind in einem Krankenhaus.“
„Biep, Biep, Biep, Biep.“
Und da erkannte sie sich selbst: Sie war in keinem Krankenhaus, sie war in der Hölle. Ihre eigenen Gedanken hatten sie verraten, ihr schlimmster Wunsch war in Erfüllung gegangen, ihr eigener Spiegel hatte sie gefangen genommen, und doch nicht der Spiegel, sondern nur sie selbst, in Selbstsucht war sie erstickt und somit auch ihr Körper.
Ihr Gehirn schaltete sich langsam wieder ein, und ihre Gedanken tönten laut über alles. Ein lauter Glockenschlag ertönte in ihrem Kopf, und eine tiefe und hohe Stimme zugleich sprach zu ihr:
„Du hast gesündigt. Du hast alle verurteilt, und somit Dich selbst. Du hast Dein eigenes Ich verleugnet, und somit wirst Du sterben und doch nicht sterben.“
„Wie? Wie kann das sein? Was soll ich tun?“
„Der einzige Ausweg besteht darin, nicht mehr zu sündigen.“
„Das will ich tun!“
„Du wirst nie mehr in einen Spiegel sehen.“
„Jeden Spiegel werde ich zerschlagen!“
„Du wirst nie mehr Make Up benutzen.“
„Es ist schon so gut wie verschenkt!“
„Du wirst nie mehr die Anerkennung genießen, die Du von anderen für Dein Aussehen erhältst.“
Biep, Biep, Biep, Biep. „Desiree, falls Du mich verstehst, wir sind in einem Krankenhaus.“
„Wie sollte ich auch, nach dieser Erfahrung?“, hielt sie der Stimme in ihrem Kopfe vor, welche anscheind Anerkennung für diese Entscheidung zeigte. „Doch will ich wissen, ist das hier die Hölle?“
„Ganz falsch, ist's doch das Paradies! Dein seligster Wunsch ist in Erfüllung gegangen, freust Du Dich denn nicht, Du undankbares dummes Mädchen?"
„Wie sollt ich mich darüber freuen? Wie kann denn das das Paradies sein?"
„Ist es nicht? Wieso denn nicht?"
„Das ist keine Antwort, das ist eine andere Frage."
„Wieso?"
„Wieso auch nicht."
Da schwieg die Stimme ganz ganz kurz, doch dann setzte sie wieder an.
„Doch schon, dass die anderen Dich über diese Maschinen am Leben erhalten, ist eine Sünde; denn Du bist es nicht würdig.“
„Doch wie soll ich das verhindern?“
„Das brauchst Du nicht, bist Du doch im Moment, im itzt, im immer!“
„Und was sagt mir das jetzt?“ Und ihre Augen veränderten sich, und sie sah sich selbst, grinsend. Und sie erkannte die Heuchelei des Grinsens vor sich selbst, sie zeigte sich selbst die Zähne. „Aber es muss doch einen Ausweg geben.“
Da fing die Stimme an sich lustig zu machen. „Gibt es nicht, gibt es nicht! Hahaha!“
„Doch, es gibt immer einen Ausweg.“
„Nein. Alles, was Du tun kannst, ist Dein Schicksal zu akzeptieren. Doch das wirst Du nicht tun können, denn bei jedem Gedanken, den Du zu fassen versuchst, werde ich Dir widersprechen.
Biep, Biep, Biep, Biep. „Desiree, falls Du mich verstehst.“ „Desiree.“ „Desiree“. Biep. Biep.
„Nein, das will ich nicht mehr hören, will ich nicht mehr sehen!“
„Du hast Dich selbst verurteilt, nun ist jedes Zurück verschlossen. Kein zurück, kein hin, kein her, Du wirst ewig leben, und ewig Dich selbst ansehen, und ewig Deinen Namen hören. Erkennst Du ihn?“ Und die Stimme fing an zu singen, in schrecklichen Tönen. „Desiree, Desiree … Desiree, Desiree … Desiree, Desiree …“ und fing an zu lachen, lachte laut und voller Bosheit.
„Aber es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann.“
„Natürlich gibt es das, aber das kannst Du nicht tun.“
Sie schöpfte einen Moment lang Hoffnung, „ja, was denn, was denn?“
„Na – nichts. Nänänänänä … hahaha. Du dummes, kleines Mädchen.“
„Wieso tust Du das? Wieso beleidigst Du mich?“
„Du beleidigst doch Dich selbst, Du dummes, hässliches, Entlein, das nichts begreift und nichts kapiert.“
„Ich will nicht, ich will nicht!“
„Was Du willst, egal, bist Du doch in meiner Hand.“
Biep. „Desiree … Desiree … Desibiep … Biepsieree … Biep ...“
„Aber ...“
„Aber?“
„Wenn ich nicht mehr sündige, so kann ich doch erlöst werden?“
„Natürlich.“
„So will ich nicht mehr sündigen!“
„Doch schaust Du die ganze Zeit Dein Spiegelbild an, und hörst Deinen Namen, und hörst Dich selbst. Jeder Mensch ist Dir egal, wie mir jeder Mensch egal ist, denn Du bist kein Mensch, nur ein dummes Tier, das mehr sein wollte als es ist.“
„Und wenn ich mich ändere?“
„So soll das der Ausweg sein.“
„Wirklich?“
„Nein.“ Und schallendes Gelächter brach über die junge Frau hinein, und sie wollte sich ihren Kopf halten, wollte, dass es aufhört, doch es ging nicht.
„Stop, halt, höre doch auf damit!“
„Wieso?“
„Wieso? Weil es schrecklich ist, ich will es nicht!“
„Das einzig schreckliche bist Du, mein Herzchen, schau Dich doch an, Du selbstverliebtes Wesen, schenkst Deine Anerkennung nicht dem Rest, nur Dir. Selbst die Natur ist Dir zuwider, selbst über die Hunde lachtest Du, die Katzen schienen Dir zu hässlich!“
„Nein nein, das stimmt doch alles nicht!“
Und in ihrem eigenen Kopf schien sich zu beweisen, was sie grad vernommen, sie sah viele Bilder, wo sie andere verhöhnt, und sie hasste sich selbst.
„Du bist ein böser Mensch, ein böser Mensch, ein böser Mensch, ein böser Mensch.“
„Wie kann ich das sein? Ich will doch nur das Gute!“
Und die Stimme fing wieder ein endloses Lachen an, und ihren Körper durchzuckte es, sie spürte ihr Herz wie verrückt schlagen, spürte ihr ganzes Sein in sich krächzen, und sie wusste, gleich würde es vorbei sein, und doch niemals. Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.
„Vergib mir, oh, ich weiß, ich kann es nicht mehr ändern, doch ich flehe mich selbst um Vergebung an!“, schrie sie aus ganzem Verstande und aus ganzem Herzen.
Und eine freundliche, hohe und tiefe Stimme sprach zu ihr: „Dir sei vergeben.“
„Desiree, falls Du mich verstehst, wir sind in einem Krankenhaus. Desiree, bist Du wach? Hallo?“, fragte eine Freundin, die sich über sie beugte.
„Ja … was ist denn los, wo bin ich denn, wie kann das sein, was ist hier los?“
„Du bist wohl in Ohnmacht gefallen. Doch alles ist wieder gut. Deine Eltern waren Dich auch schon besuchen, ich werde sie gleich anrufen, sie werden froh sein, dass Du wieder wach bist.“
Und die junge Frau brach in Tränen aus, und war schon bald der freundlichste Mensch auf Erden.
Ende.