So, nachdem ich die geschichte vier mal überarbeitet habe, traue ich mich mal, das erste Kapitel hier einzustellen. Würde mich sehr über Feedback freuen, um mich auch weiterhin verbessern zu können =)
Das Ganze ist zwar eine Liebesgeschichte, aber auf keinen Fall klischeehaft. Wer denkt, schon wieder so eine "Sie trifft auf ihn, sie verlieben sich, alles ist schön und gut -Geschichte", der hat sich geschnitten, auch, wenns anfangs so aussieht ;]
Es wird in mehreren Geschichten geschrieben.
Sie wusste nicht, wie sie dorthin kam, sie wusste nicht, wo sie überhaupt war. Unter ihren Füßen befand sich absolut gar nichts.
Als sie nach vorne schaute, erblickte sie ein schimmerndes Licht, so hell wie die Sonne. Das Licht kam von einem gigantischen Vogel, die Flügel weit ausgebreitet und richtete den Schnabel nach oben.
Sie kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden.
Als der Wecker klingelte war ich schon längst wach. Ich stand gerade an meinem Spiegel und war dabei, meine blonden, lockigen Haare zu richten. Es sollte ein Pferdeschwanz werden, sodass mein Pony jedoch an einer Seite noch locker herunter fiel.
Ich warf ein Sockenknäuel nach dem nervtötenden Wecker, der daraufhin von der Kommode fiel. Achselzuckend wand ich mich wieder meinem Spiegelbild zu.
Die Sonne schien durchs Fenster und ich konnte die Vögel glücklich zwitschern hören. Es war Frühherbst, aber noch immer schön warm. Dieses Wetter war mir am liebsten, es war nicht zu warm, sodass man meint, wie eine Tafel Schokolade zerschmelzen zu müssen, die man unglücklicherweise im Handschuhfach liegen gelassen hat. Aber auch nicht so kalt, dass man mit etwas luftigeren Kleidern die Haut einer gerupften Gans hatte .
Als ich nach meiner Schminke griff, überlegte ich, etwas mehr aufzutragen. Immerhin war ich eine Woche lang krank gewesen, sodass ich sogar Mühe hatte, in die Küche zu kommen, die gerade mal ein Stockwerk tiefer war, um mir etwas zu Essen zu machen, und das sollte man mir nicht anmerken, vor allem nicht am ersten Tag, an dem ich die Schule wieder besuchen würde.
Normalerweise war ich kaum geschminkt. Ich betonte ein wenig meine Augen, trug ein wenig Make-up und Lipgloss auf. Ich mochte diese übertrieben geschminkte und gestylte Mode einfach nicht. Ich trug lieber einfache T-Shirts, Kleider usw. in schönen hellen Farben, anstatt mir fünfundzwanzig Tops übereinander anzuziehen, die nicht genug glitzern konnten, damit sie passend zu den glitzernden Haaren passten, die mit zu viel Haarspray besprüht wurden; dazu noch einen gesamten Schminkkasten im Gesicht zu haben – es war einfach nicht mein Stil.
Das hieß natürlich nicht, dass ich die Leute, die so etwas gerne trugen, aus dem Weg ging. Mit manchen verstand ich mich sogar ganz gut, auch wenn keine von ihnen zu meinem engsten Freundeskreis gehörte.
Zu meinem engsten Freundeskreis gehörten eigentlich nicht so viele. Elena, meine beste Freundin war immer für mich da und ich liebte sie wie meine eigene Schwester, hätte ich eine gehabt. Wir zwei waren einfach unzertrennlich und das schon seit der dritten Klasse.
Jetzt bin ich in der Zwölften.
Elena und ich hingen oft mit den Mädchen aus den verschiedenen Kursen zusammen, dort tauschten wir den neusten Tratsch und Klatsch aus, zum Beispiel dass Oliver sich letzte Nacht total besoffen in den Garten von Cassie geschlichen hat und dort auf voller Lautstärke den Song „Never Gonna Give You Up“ von Rick Astley mit einem geklauten Ghetto Blaster abgespielt hat, deswegen nicht in die Schule kam, da er zu der Zeit von der Polizei verhört wurde.
Nicht, dass so etwas in unserer Schule Gang und Gebe wäre, aber solche abstrakten Geschichten hörte man nicht allzu selten. Und ich liebte es, mich darüber zu amüsieren.
Die Jungs sind uns auch nicht so verschieden. Wenn sie gerade mal nicht über ihre Highscores von ihren Computerspielen oder darüber, wie viele Mädels sie letzte Nacht abgeschleppt hatten, redeten, ging es auch darum, wer mit wem geschlafen hat oder wer mal wieder sturzbetrunken auf der letzten Party in seiner eigenen Kotze übernachtet hat.
Natürlich gab es auch Ausnahmen. Nicht alle hatten nichts Besseres zu tun als sich jedes Wochenende die Kante zu geben. Und diese konnten auch ganz normale Jugendliche sein, ohne gleich als der Oberstreber zu gelten oder der totale Fantasyfreak, der sich kein Ritterfest entgehen ließ.
Zu denen gehörte ich immerhin auch. Ich war einfach ein durchschnittliches, neunzehnjähriges Mädchen, das Klatsch und Tratsch liebte, und gute Noten mit nach Hause brachte. Was, wusste ich zwar noch nicht, aber für mich war es klar, dass ich auf jeden Fall studieren würde.
Als ich die Tür meines Zimmers öffnete und in den Flur ging, war es still. So still wie jeden Morgen. Ich lebte nämlich alleine. Ganz alleine. Ohne Eltern, ohne Geschwister oder Verwandte.
Ich war ein Einzelkind gewesen und meine Eltern starben vor mehreren Jahren an einem Autounfall. Ich war damals 12 Jahre alt und lebte dann bei meiner Tante, ihrem Mann und ihren zwei Kindern.
Ich habe mich nie mit ihnen verstanden. Tantchen ließ keine Möglichkeit außer Acht, meinen Vater nicht als „schlechte Wahl“ für Mutter abzustempeln und was sie doch für ein Pech mit ihm gehabt hatte. Dazu erzählte sie immer Geschichten über ihn, die nie wahr waren. Zum Beispiel dass er ein elender Säufer war und deswegen den Unfall gebaut hatte. Obwohl er immer nüchtern gewesen ist, vor allem beim Autofahren und er nichts dafür konnte, dass ein Lastwagen sie von der Straße drängte und sie einen steilen Hügel hinab fielen.
Und mein Onkel stimmte dem Ganzen zu. Auch wenn er selbst nie Geschichten erzählte, hasste ich ihn schon für das Nicken, wenn er welche von der Tante hörte.
Ihre Kinder waren fast genau so schlimm. Zwei Mädchen, das eine war fünf gewesen, das andere acht, als ich zu ihnen kam. Sie haben nie geteilt, nur Streiche gespielt und hatten Spaß daran, mich zu beleidigen.
Das war auch der Grund, weswegen ich so gut wie nie Zuhause gewesen bin, meistens war ich bei Elena oder bei anderen Mitschülern und übernachtete dort. Meinen Verwandten hat das auch nie gestört, Gott sei Dank.
Mit 18 zog ich dann aus, holte mir das Erbe meiner Eltern ab und zog in unser leerstehendes Haus. Seitdem lebte ich ohne Kontakt zu meinen Verwandten und mit reichlich Geld alleine.
Mein Vater hatte seine eigenen Firmen, kaufte ständig neue und verkaufte sie wieder für einen noch höheren Preis. Und nun kann ich mir so gut wie alles leisten.
Nach einer Tasse Kaffee klingelte es an der Tür. Es war Elena, die mich für gewöhnlich jeden Morgen abholte und mit mir in ihrem Auto zur Schule fuhr.
Ich drückte auf einen kleinen grünen Knopf neben der Sprechanlage und Elena konnte die Tür aufdrücken.
»Hallo! «, rief sie mir fröhlich von einem Stockwerk tiefer als ich mich befand entgegen.
Geschwind rannte ich die Stufen hinunter und fiel ihr in die Arme.
»Ich hab’ dich so vermisst!«
»’tschuldigung für die Verspätung.«, sagte sie, während sie mich noch immer drückte. Mir war die Verspätung noch gar nicht aufgefallen. »Du kennst ja die Ampeln.« Sie lachte.
Ich ließ sie los und sah auf die Uhr. Tatsächlich sie war fünf Minuten später als sonst.
»Wie geht’s dir?«
Mit einem eigenartigen Blick sah sie mich an.
»Sollte ich das nicht dich fragen? Immerhin war ich nicht diejenige, die eine Woche lang mit Fieber im Bett lag!«
»Du weißt doch, wies mir geht.«, meinte ich grinsend. »Schließlich haben wir jeden Tag miteinander telefoniert!«
»Schon.«, murmelte sie. »Sorgen habe ich mir trotzdem gemacht.«
Ich lächelte und sah sie einfach nur an. Ich liebte sie wirklich und war mir sicher, dass es eine bessere Freundin nirgends gab. Sie war ausnahmslos immer für mich da und wahrscheinlich war ich ihr sogar wichtiger als ihre Familie, zumindest kam es mir so vor.
»Was grinst du denn so?«, fragte sie und tippte ihre beiden Zeigefinger gegeneinander. »Hör auf, mich so anzustarren, das ist ja total unangenehm.«
Ich lachte. Elena war zwar nicht zurückhaltend und nahm auch kein Blatt vor den Mund, trotzdem war sie schüchterner als andere. Wenn man sie länger als wenige Sekunden ansieht, werde ich sofort gefragt, ob irgendetwas mit ihren Haaren oder ihrem Make-up sei.
Obwohl sie langsam wissen wüsste, dass jeder sie wegen ihres guten Herzens liebte und am liebsten knuddeln und nie wieder loslassen würde.
»Stell dich nicht so an.«, grinste ich noch immer. »Du bist einfach nur zu süß, wenn du rot wirst.«
Böse sah sie mich an. »Ich bin weder süß, noch rot im Gesicht!«, fauchte sie und als mein Grinsen noch breiter wurde, da ihre Wangen sich immer röter färbten, mussten wir beide plötzlich anfangen zu lachen.
»Oh je.«, sagte sie auf einmal. »Wir haben uns total verquatscht, wir kommen noch zu spät zum Unterricht!«
Ich setzte eine wehleidige Mine auf. »Och nö.«, jammerte ich. »Und das gerade am ersten Tag nach meiner Krankheit.«
»Dann komm endlich!« Sie griff nach meinem Ärmel und zog mich nach draußen.
Wir stiegen in ihren roten VW, der schon recht alt war. Sie hatte ihn vor zwei Jahren schon gebraucht gekauft, aber solange er fuhr, war alles in Ordnung.
»Und ab die Post!«, befahl ich, bevor sie überhaupt im Wagen saß.
Wir kamen fast zehn Minuten zu spät bei der Schule an. So schnell wir konnten rannten wir ins Schulgebäude. Ausgerechnet heute hatten wir in der ersten Stunde auch noch Chemie und die Lehrerin war für ihre Pünktlichkeit berühmt. Sie war wahrscheinlich die einzige, bei der die Schüler schon bevor sie in die Klasse kam, an ihren Plätzen saßen.
Und das bedeutete, dass die ganzen Plätze besetzt sein würden, bis auf zwei.
Vorsichtig klopfte Elena an der Tür und zog sie lautlos auf. Leise betrat sie das Klassenzimmer, gefolgt von mir.
Um uns herum war es zwar nicht still, aber trotzdem war es mir mehr als unangenehm. Lieber wäre ich von der gesamten Klasse angestarrt worden als nur von der Chemielehrerin. Ihr Blick glich einem Geier, der sich jeden Moment im Sturzflug auf sein Opfer stürzen könnte. Ihr Charakter glich dem eines Drachen, der jedem verbrannte, sagte er auch nur ein falsches Wort.
»Na so was! Die lebt ja noch!«, hörte ich aus einer der vorderen Reihen des Hörsaals rufen. Es war niemand anderes als Florian, die nervigste Nervensäge des gesamten Planeten. Und ausgerechnet zwischen ihm und Kate waren die letzten beiden Plätze frei.
Ich seufzte und folgte Elena zu den Stühlen. Natürlich wollte auch sie nicht neben Florian sitzen und machte es sich neben Kate bequem.
Ich mochte weder Florian noch Kate nicht besonders. Florian ließ sich keine Möglichkeit entgehen, mich nicht dämlich anzumachen, nach meiner Handynummer zu fragen oder nach einem Date. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm schon klar machen musste, dass ich nicht an ihm interessiert war und es wahrscheinlich auch nie sein würde. Er sah zwar nicht schlecht aus, schwarze, hochgegelte Haare mit einem blassen Teint, sah aber mehr wie ein kleiner Kuschelbär aus, den man auf den Jahrmarkt gewinnen konnte, was wohl an seinen Knopfaugen lag, dick war er nämlich nicht. Im Gegenteil, das grenzte schon fast an Magersucht, obwohl er mehr in sich hineinschlang als Klößchen von TKKG,
Und Kate war die Oberzicke vom Dienst. Von ihr stammten die meisten Gerüchte, bei denen man selbst ohne Hintergrundwissen wusste, dass sie erlogen waren. Und wenn das nicht auch noch genug gewesen wäre, war sie eine verdammte Heuchlerin. Sie verabredete sich mit zig Jungs pro Woche – angeblich – und lästerte danach, was das doch für Idioten gewesen sind.
Trotzdem war es angenehmer neben ihr zu sitzen als neben Florian, denn wenn du mit ihr nicht redest, dann tut sie es auch nicht. Aber er... Er quasselt dich sofort zu, zumindest dann, wenn du ich bist und er auf dich steht. Und das schon seit der siebten Klasse.
Er grinste breit, als ich mich hinter ihm vorbei quetschte und neben ihn setzte.
»Na, alles klar?«
»Ja.«, antwortete ich knapp und holte mein Chemiebuch heraus.
Wortlos, aber mit gefährlichem Blick stellte die Lehrerin jeweils ein Reagenzglas mit irgendeiner blauen Flüssigkeit darin an meinen und Elenas Platz.
Ich wollte gerade das Buch aufschlagen, da legte Florian auch schon einen Arm um mich. »Sicher?«
»Ja, mir geht’s bestens. Und jetzt lass mich bitte wieder los.«, versuchte ich ruhig zu bleiben.
»Florian, könnten Sie bitte aufhören, Liora zu belästigen und sich ihrem Experiment zuwenden?«, griff die Lehrerin ein.
Tatsächlich nahm er mit einem Seufzen den Arm von mir. Ich war ihr wohl etwas schuldig.
Der Geier machte sich dran, die einzelnen Reihen abzugehen und nachzusehen, wie weit ihre Schüler schon waren.
Ich hatte mich zu früh gefreut, denn Florian nutzte diese Chance und sprach direkt weiter: »Bevor ich’s vergesse: Ich habe meine Handynummer verloren, gibst du mir vielleicht deine?«
Ich seufzte. Er konnte es wirklich nicht lassen. »Nein.«
»Komm schon. Dann kann ich dich später anrufen und wir machen ein Date aus. Zum Beispiel...«, er machte eine Pause, um meine Reaktion abzuwarten, doch mein Blick blieb ausdruckslos und starr auf der aufgeschlagenen Buchseite. »...im Kino?«
»Nein.«
»Jetzt tu nicht so schüchtern, Kleines. Es wird schon nichts passieren.«
Nun schaute ich doch schlagartig zu ihm. Was sollte denn auch schon passieren?!
Nachdem ich die Fassung schnell wieder gefunden hatte, fand ich auch meine Sprache wieder. »Ich muss mich jetzt konzentrieren.« Ab da an ignorierte ich ihn ganz einfach.
Das war einfacher getan als gedacht. Anfangs musste ich zwar öfters bis zehn zählen, um nicht doch wütend zu werden, als er mir bescheuerte Spitznamen wie „Zuckerpüppchen“ gab und mich mit einem Stift piekste – und er konnte froh sein, dass er nicht mein neues Oberteil damit schmutzig machte -, doch dann ließ er mich wirklich in Ruhe.
Für Elena waren diese kleinen, peinlichen Anmachen schon Routine geworden und daher achtete sie auch gar nicht mehr auf mich. Sollte mir recht sein, immerhin kam ich auch alleine damit klar. Sie hatte ein Gespräch mit Kate gestartet, in der Kate ihr alles zu ihrem neuen Freund erzählte, wie toll, prächtig und wundervoll er doch war.
Elena war zu gutmütig, ihr nicht zuzuhören und tat sich diesen Schwachsinn also an – wobei sie recht interessiert immer wieder nachhakte -, doch mir war schon nach wenigen Minuten das Zuhören zu blöd und ich widmete mich der Aufgabe.
Obwohl ich wusste, dass Elena es nicht böse meinte, ärgerte es mich sichtlich, dass sie sich mit Kate mehr beschäftigte als mit mir. Ich bin zwar keine eifersüchtige Person, aber wenn sie mich schon neben Florian sitzen lässt, könnte sie mich ruhig beachten.
Nach der Stunde griff ich nach meiner Tasche, drängte mich an Florian vorbei und stürmte aus dem Raum ohne auf Elena zu warten.
Wir hatten als nächstes Musik, also musste ich über den Schulhof gehen, um das ältere Schulgebäude betreten zu können.
Ich achtete nicht darauf, wer mir dort entgegen kam, sondern nur auf meine Füße, die voller Wut auf dem Boden fast schon trampelten. Und gleichzeitig fragte ich mich, warum ich überhaupt so wütend war, so schlimm war es immerhin gar nicht gewesen. Und so ärgerte ich mich zusätzlich auch noch über mich selbst und wurde noch schlecht gelaunter.
Es war einfach nicht mein Tag gewesen.
Zu spät gekommen, neben Florian gesessen, alleine das Chemieprojekt gemacht. Der Tag fing alles andere als gut an!
Doch plötzlich sah ich zwei große Füße vor meinen und war zu schnell, um noch hätte anhalten zu können.
Ich lief geradewegs in den Körper vor mich.
Bevor ich nachsehen konnte, gegen wen ich gelaufen war, stieg mir auch schon ein angenehmer Duft in die Nase, der anscheinend von der Person kam.
Es war ein Junge. In Klamotten, die perfekt zu seiner Statur passten, recht lässig, aber nicht ungepflegt, perfekt ausgewählt.
Dann wagte ich es, meinen Blick etwas weiter nach oben schweifen zu lassen und sah direkt in die tiefen, dunklen Augen. Das Gesicht wurde von seinen braunen Haaren umrahmt, die nicht zu kurz, nicht zu lang waren. Sie waren perfekt. Genauso perfekt wie das Wetter.
Mein Mund öffnete sich einen Spalt, aber sobald ich im Begriff war, ihn ganz herunter klappen zu lassen, konnte ich auch die Fassung halbwegs wieder finden und schlängelte mich so schnell wie möglich an dem Jungen vorbei.
Mein Ärger und meine Wut waren vergessen. Aber auch meine restlichen Gedanken, genau genommen wusste ich gar nicht, was ich denken sollte, hätte ich es gekonnt.
Ich spürte nur mein Herz schlagen und war mir nicht sicher, ob es daran lag, dass ich sonst nichts mehr wahrnahm oder daran, dass ich zu aufgeregt war.
»Liora! Jetzt warte doch mal!«
Schlagartig blieb ich stehen und ließ Elena mich einholen.
»Mensch, was hast du denn, dass du so schnell zu Musik willst?«, keuchte sie.
Ich antwortete nicht und wagte noch einmal einen Blick zu dem Fremden und zu meinem Überraschen fiel sein Blick genau in meinen.
Wie eine Welle umrannte mich wieder das Gefühl der Aufregung und des Schockes und schnell starrte ich nach unten. Wie versteinert stand ich nun da und fühlte mich gleichzeitig ziemlich blöd bei der Sache.
Auf einmal waren zu viele Gedanken in meinem Kopf. Du hast dich nicht entschuldigt, du Idiot, warf ich mir zum Beispiel vor oder Wie doof muss ich gerade aussehen.
Ich wusste selber nicht, was mit mir los war.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Elena besorgt.
Ich wusste, dass ich idiotisch aussehen musste!
Ich schüttelte meinen Kopf, um meine Gedanken wieder in richtiger Reihenfolge zu bringen. »Gehen wir?«
Ich öffnete die Tür zum anderen Gebäude und ging hinein.
Schnurstracks geradeaus lief ich zum Musikraum und setzte mich dort ans Fenster und schaute hinaus.
Elena war mir verwirrt gefolgt und setzte sich neben mich. Wahrscheinlich verwundert darüber, dass ich mich in die erste Reihe setzte, wobei doch sonst immer alle so weit nach hinten wie möglich sitzen wollten. Normalerweise saßen wir immer hinten bei den anderen. Und Musik war immer ein so hervorragendes Fach, um nebenbei noch zu quatschen.
Aber ich wollte lieber aus dem Fenster sehen, den Jungen auf dem Schulhof beobachten.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ein Mädchen neben ihm stand. Sie unterhielt sich mit ihm und lachte.
Ich ignorierte Elenas Frage, ob wir uns nicht doch wo anders hinsetzen wollten und sah dem Jungen lieber dabei zu, wie er mit dem Mädchen zusammen ins Schulgebäude ging.
Ich seufzte. Noch immer wusste ich nicht, was mit mir los war. Aber ich wusste, dass sein Körper wahrscheinlich ziemlich gut trainiert war, zumindest hatte es sich so angefühlt, als ich gegen ihn lief. Unwillkürlich kamen mir Bilder in den Kopf, die mich lächeln ließen.
Plötzlich bemerkte ich eine wedelnde Hand vor meinem Gesicht.
»Halloho, Miss. Ich kann sehr gut verstehen, dass es viele Dinge gibt, die interessanter als mein Unterricht ist, aber ein leerer Schulhof kränkt mich schon ein wenig.«
Es war Herr Karls, der Musiklehrer, und dazu noch der absolut Süßeste der gesamten Schule. Er war um die Dreißig, blonde Haare, umwerfend blaue Augen und ein total niedlicher Schlafzimmerblick schmückten sein Gesicht.
Ich schenkte ihn meine Aufmerksamkeit und sah ihn verwirrt und unschuldig an.
Er richtete sich wieder gerade auf und schüttelte den Kopf. »Sie lassen mir keine andere Wahl. Ich muss Sie raus schicken.«
Herr Karls war immer ruhig und gelassen, aber konsequent. Und dafür hatte er von jedem Schüler seinen Respekt. Widerworte halfen nichts, sich zu verteidigen oder Entschuldigungen ebenfalls nicht. Also stand ich mit einem Seufzer auf, nahm meine Tasche und schlenderte aus dem Musiksaal.
Was war nur los mit mir?
Ich wurde noch nie aus dem Unterricht geworfen, vor allem nicht wegen Unaufmerksamkeit.
Ich setzte mich auf die Fensterbank vor dem Raum und wartete dort volle dreißig Minuten lang, bis es endlich zur Pause klingelte und Elena zwischen den ganzen anderen Schülern heraus kam.
»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte sie, aber ich wusste ja selbst keine Antwort. Also ignorierte ich die Frage und stellte eine eigene:
»Sind eigentlich neue Schüler auf unsere Schule gekommen während ich krank war?«
»Ja, schon. Zwei, wenn ich mich nicht irre. Warum fragst du?«
»Ein Junge und ein Mädchen?«
Elena legte den Kopf schief. »Ja. Lewin und Shanice um genau zu sagen. Aber jetzt verrate mir doch endlich, was los ist!«
Lewin und Shanice. Lewin. Mein Kopf war gefüllt mit Fragen. Wie alt war und welche Kurse besuchte er? Warum war er auf unsere Schule gekommen? Ist er Single, oder ist diese Shanice etwa seine...
»Liora?«
»Tut mir leid. Ich bin heute irgendwie nicht so gut drauf.«
»Ja, das merke ich. Du bist anscheinend von Tagträumen befallen. Wovon handeln sie?«
»Ich bin heute gegen einen Jungen gelaufen, den ich noch nicht kannte.«
»Gegen Lewin also.« Ihre Lippen formten sich zu einem breiten Lächeln.
»Ja, sieht so aus. Und das hat mich total durcheinander gebracht und~«
»Schon klar. Du bist verschossen.«
Ich zog die Augenbrauen etwas zusammen. »Ach quatsch.«
»Doch, natürlich. Sonst würdest du doch nicht vollkommen neben der Spur sein. Gib es schon zu.«
»Ich kenne ihn doch nicht einmal.«
»Dann lernst du ihn eben kennen. Wo liegt da das Problem?«
»Weiß ich auch nicht.«, gab ich ehrlich zu. Eigentlich gab es keins. Trotzdem hatte ich irgendwie Hemmungen zu ihm zu gehen wie ich es sonst normalerweise machte.
»Hey, ich bin Liora. Was hat dich hierher verschlagen?« klang auf einmal zu blöd, obwohl ich mich sonst jedem so vorstellte.
»Und wer ist diese Shanice?«, fragte ich Elena in Hoffnung, dass die Antwort anders lauten würde als ich sie erwartete.
»Seine Cousine.«
In Gedanken rief ich laut »Yes!«, doch erwiderte ich ihr bloß ein »Achso«.
Ziemlich blöd irgendwie, als wenn Elena nicht schon wissen würde, wie es in mir aussah.
Sie lächelte mich aber lediglich mit ihrem zuckersüßen Lächeln an, neigte den Kopf etwas zur Seite und ließ sich einzelne rote Haarsträhnen ins Gesicht fallen. »Komm, ich fahr dich nach Hause.«, beschloss sie, hakte sich bei mir ein und zog mich zum Auto.