In einer Welt, in der die Menschen immer nur das sehen, was sie auch sehen wollen, kann das Ungewöhnliche direkt unter uns wandeln.
Haruka richtete sich mit einem leisen Schrei auf ihrem Futon auf. Da war er wieder gewesen, der Traum! Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und ihr Herz pochte schmerzhaft stark in ihrer Brust.
Stöhnend zog sie die Beine an den Körper und umschloss ihre Knie mit den Armen.
Die anderen hatten sie also wieder gefunden!
Immer wenn diese Vision in ihre Träume zurückkehrte, dann waren die Agenten der Regierung wieder auf ihrer Spur. Das letzte Mal waren sie vor vier Jahren so dicht an sie heran gekommen. Wie von selbst tauchten die Bilder dazu vor ihrem inneren Augen auf.
Ihr Ehemann Akashi hatte sich damals geopfert, um ihr und der kleinen Akemi die Flucht und das Untertauchen zu ermöglichen! Ganz deutlich sah sie sein Gesicht zum Abschied vor sich.
Und nun waren sie wieder da!
Mit ihren einunddreißig Jahren und dem langem schwarzen Haar war sie eine adrette Erscheinung, die Männeraugen anziehen konnte. Ihre braunen Augen konnten beim Lachen noch leuchten, was ihrer ganzen Erscheinung einen Glanz verlieh.
Sie spürte die tastenden Gedankenfühler von Akemi, die wohl ihre aufgewühlten Gedanken empfangen hatte. Rasch sandte sie beruhigende Gedanken aus, um ihre Tochter nicht zu erschrecken.
Jetzt war einfach nicht die Zeit, um den Gefühlen nachzugeben. Man wollte sie und ihre Tochter!
Mit einem Satz war sie auf den Beinen und zog die kleine Reisetasche aus der Ecke. Die kleine Wohnung im achten Stock eines der großen Wohnblocks in Tokyo war jetzt schon vergessen. Nur noch die Sicherheit von Akemi zählte.
Rasch packte sie ein paar Sachen zusammen und warf auch die wichtigen Dokumente mit hinein.
Ihre Tochter hatte bereits aus ihren Gedanken entnommen, dass sie wieder einmal untertauchen mussten und ebenfalls ihren kleinen Rucksack gepackt.
Wenige Minuten später verließen sie den Wohnblock durch den hinteren Ausgang und schritten rasch auf die nächste U-Bahn Station zu. Haruka spürte die Gedanken eines Agenten, der sich intensiv mit ihrem Bild beschäftigte. Sie waren bereits in der Nähe!
Sie zog die Kapuze der dünnen Jacke über die Basecap, die Akemi so gerne trug und verbarg so den Pferdeschwanz. Akemi hatte im Gegensatz zu ihren Eltern grüne Augen in denen goldene Sprenkel einen Akzent setzten. Für ihre elf Jahre war sie bereits recht groß gewachsen.
Haruka warf einen schnellen Blick in die Runde. Nein, dies war nicht der Ort aus ihrer Vision!
Mit Akemi an der Hand eilte sie die Treppe zu der Automatenhalle hinunter und kaufte für sie beide Fahrkarten. Dann eilten sie mit dem Strom der Geschäftsleute hinunter zu den Gleisen und bestiegen die U-Bahn.
Langsam begann sich ihr Herzschlag wieder zu beruhigen. Haruka atmete tief durch.
„Sind die bösen Männer wieder da?" glasklar entstand diese Frage in ihrem Inneren. Die Augen von Akemi blickte sie groß an, aber ihr Mund hatte sich nicht bewegt.
Sie waren beide Telepathen, obwohl die Fähigkeiten der kleinen Akemi bedeutend stärker waren als ihre eigenen. Ihre Großeltern hatten damals die Atombombe auf Hiroshima überlebt und waren nicht an der Strahlenkrankheit gestorben. Trotzdem musste sich etwas an ihrem Erbgut verändert haben. Bei ihrer Mutter waren die Fähigkeiten nur ganz schwach gewesen, so dass es nicht auffiel. Aber bei Haruka war die Fähigkeit des Lesen von Gedanken ausgeprägter gewesen. Die Regierung hatte hier, wie überall auf der Welt in den Wirtschaftsnationen, nach solchen außergewöhnlichen Kräften gesucht. Akashi besaß die Fähigkeit in die Zukunft zu schauen und hatte sie aufgespürt, bevor es die Regierungsagenten konnten. Zusammen waren sie geflohen und hatten sich immer wieder erfolgreich dem Zugriff entziehen können.
Dabei waren sie dann auch zu einem Paar geworden. Auf einer kleinen Insel vor der Küste hatten sie sich trauen lassen und ein Jahr später war Akemi geboren worden.
„Ja, meine kleine Akemi. Sie haben uns wieder einmal gefunden!" flüsterte Haruka ihr zu.
„Und die Vision von Vater ist wieder zu dir zurückgekehrt!" Wieder sprach das Mädchen nicht mit dem Mund. Haruka nickte mit feuchten Augen. Lügen wäre bei Akemi zwecklos, da sie es sofort spüren würde.
Die Visionen, die Akashi von der Zukunft hatte, wurden immer finsterer. Er wusste, dass die Regierungsagenten immer besser wurden, um seine Gabe zu umgehen. Vielleicht hatten sie auch schon andere mit besonderen Gaben in ihrer Gewalt und setzten diese ein. Haruka wusste es nicht!
Eines Abends hatte Akashi dann diese besondere Vision, die ihn schon seit Monaten quälte, auf sie übertragen.
In dieser Vision stand sie mit Akemi zwischen kleinen einstöckigen Wohnhäusern und wurde von Regierungsagenten umzingelt. Man schoss auf sie und sie stürzte blutend zu Boden. Akemi stand unverletzt neben ihr und weinte. Während die Männer auf ihre Tochter zugingen, verblasste die Vision in roten Schleiern!
Wie seinen eigenen Tod, hatte Akashi auch den ihren vorausgesehen. Seinen eigenen Tod hatte er zum Schutz seiner Lieben akzeptiert, aber er hatte sie ermahnt, dass die Zukunft nicht fest geschrieben stand. Man könnte sie verändern!
Außerdem wäre sein Ende der Vision etwas anders gewesen. Nur hatte er ihr nie verraten, was genau anders gewesen war.
„Man darf das Schicksal zwar herausfordern, aber niemals seine Macht unterschätzen!" hatte er dann immer zu ihr gesagt. Akzeptiere, was sein muss, so hatte ihr Vater immer zu ihr gesprochen. Doch all dies half ihr nicht weiter!
An einer Station wechselten die beiden die Linie und fuhren weiter.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll!" seufzte sie leise.
Akemi spürte ihre Unsicherheit und kuschelte sich auf der Sitzbank an ihre Seite. Haruka legte den Arm um sie.
Plötzlich spürte sie wieder die Gedanken eines Verfolgers!
Immer wenn jemand auf sie konzentriert war, konnte sie dessen Gedanken aufspüren. Dieser Mann betrachtete ihr Bild! Und er war bereits in der Nähe.
Sie nutzten offenbar die Überwachungskameras der U-Bahn, um ihre Spur zu verfolgen.
Haruka war sehr dankbar, dass die Agenten kein Bild von Akemi besaßen! Somit konnten sie ihre Tochter nicht direkt verfolgen. Sie achtete immer gut darauf, dass die Kleine ihr Gesicht nicht zeigte.
Aber wenn die Verfolger bereits so nahe waren, dann musste sie aus dem Zug raus!
An der nächsten Station verließen sie die U-Bahn und eilten auf die Straße.
Haruka sah sich orientierend um. Todai, Hongo-Campus. Sie waren nicht mehr im Zentrum der Stadt.
Auf der anderen Seite lag ein Wohngebiet.
Ohne lange zu überlegen überquerte Haruka mit ihrer Tochter die Straße und lief in das Wohngebiet hinein. Erst als die Wohnhäuser ihr ganzes Sichtfeld umschlossen, fiel es ihr auf. Einstöckige Wohnhäuser! An einem solchen Ort…
„Da ist sie!" rief eine Stimme zu ihrer Linken. Mehrere dunkel gekleidete Männer kamen aus sie zugerannt.
„Oh nein!" keuchte sie. Das war direkt aus ihrer Vision!
„Diesmal können sie nicht mehr entkommen!" versicherte einer der Männer ihr, während sich der Kreis schloss. Haruka spürte wie ihre Augen zu brennen begannen. Heiße Tränen rollten über ihre Wangen. Sie hatte versagt!
Sie würden Akemi verschleppen und ihre besonderen Kräfte für schlimme Dinge missbrauchen!
„Nein!" Der Schrei bildete sich tief in ihrer Kehle und fand seinen Weg zum Mund. Sie konnte das nicht zulassen!
„Lassen sie das! Es hat doch keinen Sinn!" brüllte einer der Männer und hob seine Waffe.
Haruka ignorierte die Waffe und stürzte auf die Männer zu.
„Akemi! Lauf weg!" schrie sie mit aller Kraft ihrer Lungen.
Dann war da ein merkwürdig taubes Gefühl in ihrem Brustkorb. Erst jetzt vernahm sie das peitschende Knallen der Schüsse. Ihre Beine knickten ein und sie stürzte zu Boden.
Die Vision! Alles geschah so, wie sie es gesehen hatte!
In diesem Augenblick spürte sie fremde Gedanken. Es war noch jemand hier. Aber der Fremde musste hinter ihr sein, denn sie konnte ihn nicht sehen.
Warmes Blut rann durch ihre Finger, die sie vor die Wunden gelegt hatte. Langsam drehte sie sich auf den Rücken, als Akemi hinter ihr aufschrie. Ihr Blickfeld wanderte. Zwei der Männer hatten ihre Tochter ergriffen. Nur wenige Schritte dahinter war ein fremder Mann aus einer kleinen Gasse getreten und starrte auf die Szenerie vor sich.
Haruka spürte, wie das Leben aus ihrem Körper wich, aber noch war sie nicht bereit.
Der Fremde strahlte einen brodelnden Zorn aus und seine Körperhaltung veränderte sich.
Zwei der Agenten liefen auf ihn zu und redeten auf den Mann ein. Aber er verstand kein Wort, wie sie seinen Gedanken entnehmen konnte.
Als er seinerseits die beiden Männer anrief, die Akemi ergriffen hatten, benutzte er eine ihr unbekannte Sprache. Die beiden Agenten erreichten ihn und griffen nach seinen Armen. Mit einer kraftvollen Bewegung schüttelte er die Hände der Männer ab und griff seinerseits zu. Gezielt zog der Fremde die beiden Pistolen der Agenten unter deren Jacketts hervor.
Haruka sammelte ihre geistigen Kräfte und strahlte einen Gedanken zu dem fremden Mann ab.
„Rette meine Tochter!"
Der Blick des Fremden glitt kurz zu ihr und ein knappes Nicken zeigte ihr, dass er sie verstanden hatte.
Die Agenten waren durch das Erscheinen des Fremden verunsichert. Ausländer durften nicht in Staatsangelegenheiten verwickelt werden. Eine Situation wie diese hatten sie wohl noch nicht erlebt!
Der Fremde bleckte seine Zähne zu einem freudlosen Grinsen und lud die Waffen durch.
Als die Agenten nun doch reagierten, schoss der Mann ohne jedes Zögern. Mit beiden Pistolen gleichzeitig feuerte er auf die Agenten, die ihn ihrerseits aufs Korn nehmen wollten.
Harukas Augen weiteten sich. Selbst die beiden, die Akemi festhielten wurden getroffen, ohne das ihrem Kind etwas geschah. Innerhalb eines Liedschlags war bereits alles vorbei!
„Mammi!" schrie Akemi und kam zu ihr gerannt.
Der Fremde blickte mit kalten Augen auf die Toten um ihn herum und feuerte noch einmal, als er bei einem noch Lebenszeichen erkannte. Dann erst näherte er sich Haruka und Akemi.
Die Härte verschwand aus seinen Augen, als er sich neben sie hockte.
Akemi hatte Haruka weinend umschlungen, während diese in die Augen des Fremden blickte.
War dies in der Vision von Akashi vorgekommen?
Haruka wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
„Auch wenn sie ein Fremder sind, so bitte ich sie, nehmen sie sich meiner Tochter an!" sandte sie ihre konzentrierten Gedanken aus.
„Bei dem Blut, dass ich vergossen habe, tapfere Mutter, gebe ich ihnen mein Wort darauf!" drangen seine Gedanken auf sie ein. Er schob die Waffen unter seine Jacke und legte eine Hand auf Akemi.
„Meine geliebte Akemi. Ich kann nun nicht länger bei dir sein, obwohl ich es bestimmt nicht so gewollt habe. Dieser Mann wird ab jetzt für dich sorgen! Bitte folge ihm und vergiss mich nicht!"
Akemi blickte den fremden Mann aufmerksam an, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.
„Ich verspreche es, Mamma!" Haruka spürte, wie die Gedanken ihrer Tochter sich auf den Mann einstellten. Noch einmal sah der Mann auf Haruka, aber ihre Augen hatten sich bereits verschleiert.
Wortlos richtete er sich auf und streckte Akemi die Hand entgegen. Diese blickte ihn an und legte dann ihre Hand in seine und sie gingen davon.