Wege des Schicksals

    • Offizieller Beitrag

    In einer Welt, in der die Menschen immer nur das sehen, was sie auch sehen wollen, kann das Ungewöhnliche direkt unter uns wandeln.



    Haruka richtete sich mit einem leisen Schrei auf ihrem Futon auf. Da war er wieder gewesen, der Traum! Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und ihr Herz pochte schmerzhaft stark in ihrer Brust.
    Stöhnend zog sie die Beine an den Körper und umschloss ihre Knie mit den Armen.
    Die anderen hatten sie also wieder gefunden!
    Immer wenn diese Vision in ihre Träume zurückkehrte, dann waren die Agenten der Regierung wieder auf ihrer Spur. Das letzte Mal waren sie vor vier Jahren so dicht an sie heran gekommen. Wie von selbst tauchten die Bilder dazu vor ihrem inneren Augen auf.
    Ihr Ehemann Akashi hatte sich damals geopfert, um ihr und der kleinen Akemi die Flucht und das Untertauchen zu ermöglichen! Ganz deutlich sah sie sein Gesicht zum Abschied vor sich.
    Und nun waren sie wieder da!

    Mit ihren einunddreißig Jahren und dem langem schwarzen Haar war sie eine adrette Erscheinung, die Männeraugen anziehen konnte. Ihre braunen Augen konnten beim Lachen noch leuchten, was ihrer ganzen Erscheinung einen Glanz verlieh.
    Sie spürte die tastenden Gedankenfühler von Akemi, die wohl ihre aufgewühlten Gedanken empfangen hatte. Rasch sandte sie beruhigende Gedanken aus, um ihre Tochter nicht zu erschrecken.
    Jetzt war einfach nicht die Zeit, um den Gefühlen nachzugeben. Man wollte sie und ihre Tochter!
    Mit einem Satz war sie auf den Beinen und zog die kleine Reisetasche aus der Ecke. Die kleine Wohnung im achten Stock eines der großen Wohnblocks in Tokyo war jetzt schon vergessen. Nur noch die Sicherheit von Akemi zählte.
    Rasch packte sie ein paar Sachen zusammen und warf auch die wichtigen Dokumente mit hinein.
    Ihre Tochter hatte bereits aus ihren Gedanken entnommen, dass sie wieder einmal untertauchen mussten und ebenfalls ihren kleinen Rucksack gepackt.

    Wenige Minuten später verließen sie den Wohnblock durch den hinteren Ausgang und schritten rasch auf die nächste U-Bahn Station zu. Haruka spürte die Gedanken eines Agenten, der sich intensiv mit ihrem Bild beschäftigte. Sie waren bereits in der Nähe!
    Sie zog die Kapuze der dünnen Jacke über die Basecap, die Akemi so gerne trug und verbarg so den Pferdeschwanz. Akemi hatte im Gegensatz zu ihren Eltern grüne Augen in denen goldene Sprenkel einen Akzent setzten. Für ihre elf Jahre war sie bereits recht groß gewachsen.
    Haruka warf einen schnellen Blick in die Runde. Nein, dies war nicht der Ort aus ihrer Vision!
    Mit Akemi an der Hand eilte sie die Treppe zu der Automatenhalle hinunter und kaufte für sie beide Fahrkarten. Dann eilten sie mit dem Strom der Geschäftsleute hinunter zu den Gleisen und bestiegen die U-Bahn.
    Langsam begann sich ihr Herzschlag wieder zu beruhigen. Haruka atmete tief durch.
    „Sind die bösen Männer wieder da?" glasklar entstand diese Frage in ihrem Inneren. Die Augen von Akemi blickte sie groß an, aber ihr Mund hatte sich nicht bewegt.

    Sie waren beide Telepathen, obwohl die Fähigkeiten der kleinen Akemi bedeutend stärker waren als ihre eigenen. Ihre Großeltern hatten damals die Atombombe auf Hiroshima überlebt und waren nicht an der Strahlenkrankheit gestorben. Trotzdem musste sich etwas an ihrem Erbgut verändert haben. Bei ihrer Mutter waren die Fähigkeiten nur ganz schwach gewesen, so dass es nicht auffiel. Aber bei Haruka war die Fähigkeit des Lesen von Gedanken ausgeprägter gewesen. Die Regierung hatte hier, wie überall auf der Welt in den Wirtschaftsnationen, nach solchen außergewöhnlichen Kräften gesucht. Akashi besaß die Fähigkeit in die Zukunft zu schauen und hatte sie aufgespürt, bevor es die Regierungsagenten konnten. Zusammen waren sie geflohen und hatten sich immer wieder erfolgreich dem Zugriff entziehen können.
    Dabei waren sie dann auch zu einem Paar geworden. Auf einer kleinen Insel vor der Küste hatten sie sich trauen lassen und ein Jahr später war Akemi geboren worden.
    „Ja, meine kleine Akemi. Sie haben uns wieder einmal gefunden!" flüsterte Haruka ihr zu.
    „Und die Vision von Vater ist wieder zu dir zurückgekehrt!" Wieder sprach das Mädchen nicht mit dem Mund. Haruka nickte mit feuchten Augen. Lügen wäre bei Akemi zwecklos, da sie es sofort spüren würde.

    Die Visionen, die Akashi von der Zukunft hatte, wurden immer finsterer. Er wusste, dass die Regierungsagenten immer besser wurden, um seine Gabe zu umgehen. Vielleicht hatten sie auch schon andere mit besonderen Gaben in ihrer Gewalt und setzten diese ein. Haruka wusste es nicht!
    Eines Abends hatte Akashi dann diese besondere Vision, die ihn schon seit Monaten quälte, auf sie übertragen.
    In dieser Vision stand sie mit Akemi zwischen kleinen einstöckigen Wohnhäusern und wurde von Regierungsagenten umzingelt. Man schoss auf sie und sie stürzte blutend zu Boden. Akemi stand unverletzt neben ihr und weinte. Während die Männer auf ihre Tochter zugingen, verblasste die Vision in roten Schleiern!
    Wie seinen eigenen Tod, hatte Akashi auch den ihren vorausgesehen. Seinen eigenen Tod hatte er zum Schutz seiner Lieben akzeptiert, aber er hatte sie ermahnt, dass die Zukunft nicht fest geschrieben stand. Man könnte sie verändern!
    Außerdem wäre sein Ende der Vision etwas anders gewesen. Nur hatte er ihr nie verraten, was genau anders gewesen war.
    „Man darf das Schicksal zwar herausfordern, aber niemals seine Macht unterschätzen!" hatte er dann immer zu ihr gesagt. Akzeptiere, was sein muss, so hatte ihr Vater immer zu ihr gesprochen. Doch all dies half ihr nicht weiter!
    An einer Station wechselten die beiden die Linie und fuhren weiter.
    „Ich weiß nicht, was ich tun soll!" seufzte sie leise.
    Akemi spürte ihre Unsicherheit und kuschelte sich auf der Sitzbank an ihre Seite. Haruka legte den Arm um sie.

    Plötzlich spürte sie wieder die Gedanken eines Verfolgers!
    Immer wenn jemand auf sie konzentriert war, konnte sie dessen Gedanken aufspüren. Dieser Mann betrachtete ihr Bild! Und er war bereits in der Nähe.
    Sie nutzten offenbar die Überwachungskameras der U-Bahn, um ihre Spur zu verfolgen.
    Haruka war sehr dankbar, dass die Agenten kein Bild von Akemi besaßen! Somit konnten sie ihre Tochter nicht direkt verfolgen. Sie achtete immer gut darauf, dass die Kleine ihr Gesicht nicht zeigte.
    Aber wenn die Verfolger bereits so nahe waren, dann musste sie aus dem Zug raus!
    An der nächsten Station verließen sie die U-Bahn und eilten auf die Straße.
    Haruka sah sich orientierend um. Todai, Hongo-Campus. Sie waren nicht mehr im Zentrum der Stadt.
    Auf der anderen Seite lag ein Wohngebiet.
    Ohne lange zu überlegen überquerte Haruka mit ihrer Tochter die Straße und lief in das Wohngebiet hinein. Erst als die Wohnhäuser ihr ganzes Sichtfeld umschlossen, fiel es ihr auf. Einstöckige Wohnhäuser! An einem solchen Ort…

    „Da ist sie!" rief eine Stimme zu ihrer Linken. Mehrere dunkel gekleidete Männer kamen aus sie zugerannt.
    „Oh nein!" keuchte sie. Das war direkt aus ihrer Vision!
    „Diesmal können sie nicht mehr entkommen!" versicherte einer der Männer ihr, während sich der Kreis schloss. Haruka spürte wie ihre Augen zu brennen begannen. Heiße Tränen rollten über ihre Wangen. Sie hatte versagt!
    Sie würden Akemi verschleppen und ihre besonderen Kräfte für schlimme Dinge missbrauchen!
    „Nein!" Der Schrei bildete sich tief in ihrer Kehle und fand seinen Weg zum Mund. Sie konnte das nicht zulassen!
    „Lassen sie das! Es hat doch keinen Sinn!" brüllte einer der Männer und hob seine Waffe.
    Haruka ignorierte die Waffe und stürzte auf die Männer zu.
    „Akemi! Lauf weg!" schrie sie mit aller Kraft ihrer Lungen.
    Dann war da ein merkwürdig taubes Gefühl in ihrem Brustkorb. Erst jetzt vernahm sie das peitschende Knallen der Schüsse. Ihre Beine knickten ein und sie stürzte zu Boden.
    Die Vision! Alles geschah so, wie sie es gesehen hatte!
    In diesem Augenblick spürte sie fremde Gedanken. Es war noch jemand hier. Aber der Fremde musste hinter ihr sein, denn sie konnte ihn nicht sehen.

    Warmes Blut rann durch ihre Finger, die sie vor die Wunden gelegt hatte. Langsam drehte sie sich auf den Rücken, als Akemi hinter ihr aufschrie. Ihr Blickfeld wanderte. Zwei der Männer hatten ihre Tochter ergriffen. Nur wenige Schritte dahinter war ein fremder Mann aus einer kleinen Gasse getreten und starrte auf die Szenerie vor sich.
    Haruka spürte, wie das Leben aus ihrem Körper wich, aber noch war sie nicht bereit.
    Der Fremde strahlte einen brodelnden Zorn aus und seine Körperhaltung veränderte sich.
    Zwei der Agenten liefen auf ihn zu und redeten auf den Mann ein. Aber er verstand kein Wort, wie sie seinen Gedanken entnehmen konnte.
    Als er seinerseits die beiden Männer anrief, die Akemi ergriffen hatten, benutzte er eine ihr unbekannte Sprache. Die beiden Agenten erreichten ihn und griffen nach seinen Armen. Mit einer kraftvollen Bewegung schüttelte er die Hände der Männer ab und griff seinerseits zu. Gezielt zog der Fremde die beiden Pistolen der Agenten unter deren Jacketts hervor.
    Haruka sammelte ihre geistigen Kräfte und strahlte einen Gedanken zu dem fremden Mann ab.
    „Rette meine Tochter!"
    Der Blick des Fremden glitt kurz zu ihr und ein knappes Nicken zeigte ihr, dass er sie verstanden hatte.

    Die Agenten waren durch das Erscheinen des Fremden verunsichert. Ausländer durften nicht in Staatsangelegenheiten verwickelt werden. Eine Situation wie diese hatten sie wohl noch nicht erlebt!
    Der Fremde bleckte seine Zähne zu einem freudlosen Grinsen und lud die Waffen durch.
    Als die Agenten nun doch reagierten, schoss der Mann ohne jedes Zögern. Mit beiden Pistolen gleichzeitig feuerte er auf die Agenten, die ihn ihrerseits aufs Korn nehmen wollten.
    Harukas Augen weiteten sich. Selbst die beiden, die Akemi festhielten wurden getroffen, ohne das ihrem Kind etwas geschah. Innerhalb eines Liedschlags war bereits alles vorbei!
    „Mammi!" schrie Akemi und kam zu ihr gerannt.
    Der Fremde blickte mit kalten Augen auf die Toten um ihn herum und feuerte noch einmal, als er bei einem noch Lebenszeichen erkannte. Dann erst näherte er sich Haruka und Akemi.
    Die Härte verschwand aus seinen Augen, als er sich neben sie hockte.
    Akemi hatte Haruka weinend umschlungen, während diese in die Augen des Fremden blickte.
    War dies in der Vision von Akashi vorgekommen?
    Haruka wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
    „Auch wenn sie ein Fremder sind, so bitte ich sie, nehmen sie sich meiner Tochter an!" sandte sie ihre konzentrierten Gedanken aus.
    „Bei dem Blut, dass ich vergossen habe, tapfere Mutter, gebe ich ihnen mein Wort darauf!" drangen seine Gedanken auf sie ein. Er schob die Waffen unter seine Jacke und legte eine Hand auf Akemi.
    „Meine geliebte Akemi. Ich kann nun nicht länger bei dir sein, obwohl ich es bestimmt nicht so gewollt habe. Dieser Mann wird ab jetzt für dich sorgen! Bitte folge ihm und vergiss mich nicht!"
    Akemi blickte den fremden Mann aufmerksam an, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.
    „Ich verspreche es, Mamma!" Haruka spürte, wie die Gedanken ihrer Tochter sich auf den Mann einstellten. Noch einmal sah der Mann auf Haruka, aber ihre Augen hatten sich bereits verschleiert.
    Wortlos richtete er sich auf und streckte Akemi die Hand entgegen. Diese blickte ihn an und legte dann ihre Hand in seine und sie gingen davon.

  • also an deinem Schreibstyl ist nicht viel auszusetzen, aber
    du solltest mehr absätze reinbringen, dann geht das viel leichter zu lesen


    was mir noch nicht gefallen hat war: du hast die Personen nicht beschrieben (Haruka und Akemi) es ist/ ich finde es schwer mir ein Bild von ihnen vorzustellen, da du gar nüx zu ihnen geschrieben hast


    ist das eine Kurzgeschichte oder soll sie noch weitergehen?


    :enjoy *erdbeertee schlürf*

    Zwielicht
    [SIGPIC][/SIGPIC]
    Trenne dich nie von deinen Träumen. Wenn sie verschwunden sind wirst du weiter existieren, doch aufgehört haben zu leben.

    • Offizieller Beitrag

    Hast recht, die Absätze waren beim rüberkopieren wieder weggefallen - jetzt neu gesetzt. Eine kurze Beschreibung hab ich auch noch ergänzt, so wird es vielleicht einfacher mit der Vorstellung. Eigentlich hat mich das heute morgen um vor sieben aus dem Schlaf getrieben...


    • Offizieller Beitrag

    Hier noch mal etwas aus meiner Feder, das auch schon mal in einem Fanzine veröffentlicht wurde.

    Erschienen im Rahmen der Legendensänger-Edition:



    Der Sündenbock



    Es war eine finstere, mondlose Nacht und ein kalter Westwind strich über die Häuser des kleinen Dorfes. Die meisten Dorfbewohner schliefen schon, aber in der Dorfschänke saßen noch drei Männer beieinander. Die groben Holzbänke im Schankraum wurden nur noch von den erlöschenden Flammen des Kamins beleuchtet.
    „Diese Nacht ist ideal für unsere Pläne, Borsk! Niemand wird uns sehen! Leider befinden sich zur Zeit keine Fremden in der Nähe. Was wird jetzt aus unserem Plan?" fragte Tinder, der Schafhirte, bedrückt.
    Borsk, der fettleibige Schankwirt des Dorfes, grinste mit gelben Zähnen.
    „Keine Angst, Tinder. Ich habe trotzdem vorgesorgt! Eines der Dorfkinder hat einen fremden Wanderer auf der oberen Weide gesehen. Er wird in dieser kalten Nacht nicht mehr weiterziehen. Also nehmen wir ihn!" erklärte er dem ängstlichen Hirten zuversichtlich. Die drei Männer blickten sich verschwörerisch an und hoben ihre irdenen Krüge.
    „Morgen sind wir reiche Leute!" sagte Borsk feierlich, dann stießen sie an und tranken. Als sie ihre Krüge wieder absetzten lachten sie schauerlich, danach erhoben sie sich und verließen die Schenke.

    Der nächste Tag begann mit einem strahlenden Sonnenaufgang, der die kalte Nacht vergessen machte. Slen reckte sich ausgiebig, um die Kälte der Nacht aus seinen Gliedern zu vertreiben. Er übernachtete wirklich ungern im Freien, denn eigentlich war er ein Städter. Leider zwangen ihn die Umstände zu dieser Flucht in die Berge. Er war ein Spieler, der von seiner Fingerfertigkeit lebte. Alleine dieser Umstand beinhaltete schon einen häufigen Ortswechsel. Aber in der Zwischenzeit war er zu bekannt geworden, so dass er sich in den größeren Städten nicht mehr sehen lassen durfte. Selbst in Yjan-Calliorn, der Stätte seiner Geburt, forderte man seine flinken Hände auf den Richtblock. Verständlicherweise suchte Slen das zu verhindern. So zog er mit seiner geringen Habe in die Berge, um den Küstenbewohnern Zeit zu geben seinen Namen und seine Schuld zu vergessen. Aber die Berge waren keine gute Gegend für Spieler. Wenig Geld - Kaum Gold!

    In den meisten Dörfern hier lebten nur Bauern und die kannten nur ihre Arbeit. Sie hielten ihr Geld fest! Slen war daher gezwungen im Freien zu leben, denn seine letzte Barschaft war lange dahin! Mit einem ärgerlichen Laut schulterte Slen seine Habe und machte sich wieder auf den Weg.
    Die Sonne näherte sich ihrem höchsten Stand als Slen das Dorf entdeckte. Er wusste nicht wie es hieß und eigentlich interessierte es ihn auch nicht besonders. Es würde hier genau so wenig zu holen geben, wie in den anderen Dörfern. Seine Augen verengten sich, als er die Menschenmenge auf dem Dorfplatz sah.
    So etwas bedeutete selten etwas Gutes! Normalerweise müssten die Leute schon lange auf ihren Feldern sein. Slens Nackenhaare richteten sich auf. Ein deutliches Zeichen für Unannehmlichkeiten, denen er besser aus dem Weg gehen sollte. Noch bevor er umdrehen konnte, drängte sich ein Mann durch die Menge und zeigte direkt auf ihn.

    „Da ist er! Das ist der Schuldige! Ich erkenne ihn wieder!" brüllte der Mann den Dorfbewohnern zu. Slen erstarrte mitten in der Bewegung. Der Schuldige? Woran sollte er in dieser trostlosen Gegend Schuld sein?
    „Er hat Jemdes Hof letzte Nacht überfallen und Jemde erschlagen!" schrie eine andere Stimme. Man wollte ihm einen Mord anhängen! durchfuhr es Slen siedendheiß. Auf dem Dorfplatz erhob sich ein vielstimmiges Geschrei, als der Hass des Mobs sich gegen ihn richtete. Die Menschen verwandelten sich in eine heulende Meute, in die jetzt Bewegung kam. Slen erkannte, dass ihm niemand zuhören würde, wenn er jetzt seine Unschuld beteuerte. Die rasende Menge hätte ihn erschlagen, ehe er geendet haben würde! Im Augenblick gab es für ihn nur die Flucht! Slen warf sich herum und rannte den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Der Mob der Dorfbewohner folgte ihm unter wüstem Geschrei. Slen blickte sich suchend um. Auf diesem Weg würde er den Dorfbewohnern nicht entkommen können, deshalb musste er irgendwie in den Wald gelangen.

    Bislang verlief der Dorfpfad aber noch als Hohlweg und ihm blieb nur der Weg nach vorne.
    „Er darf uns nicht entkommen!" brüllte eine Männerstimme aus der Menge. Slen erkannte die Stimme wieder. Die gleiche Person hatte ihn auch beschuldigt. Jetzt hetzte sie die Menschen des Dorfes immer weiter auf. Slen ahnte, dass man ihn als Sündenbock vorschieben wollte. Die eigentlichen Schuldigen sorgten dafür, dass die Dorfbewohner einen Schuldigen bekamen und das dieser ohne Anhörung umgebracht wurde. Die Beute selbst würde man natürlich nicht finden, aber die Dorfbewohner würden sich damit abfinden. Ein hinterhältiger Plan!

    Aus dem Augenwinkel entdeckte Slen einen Erdabbruch, an dem er den Hohlweg verlassen konnte. Am oberen Hang wuchsen dichte Beerensträucher, die eine gute Deckung abgeben würden. Aus vollem Lauf sprang Slen in den Spalt. Er fiel dabei nach vorn und kletterte auf allen Vieren sofort weiter. Die aufgebrachte Menge kam inzwischen rasch näher. Das lose Erdreich unter Slen gab immer wieder nach. Er keuchte vor Anstrengung, aber er durfte nicht nachlassen. Sein Leben hing davon ab!
    „Er versucht in die Beerensträucher zu entkommen!" schrie eine Frauenstimme irgendwo hinter ihm. Eine große Heugabel bohrte sich dicht neben ihm ins Erdreich. Der kurze Schreck katapultierte Slen förmlich über den Hang. Dichtes Strauchwerk schlug ihm entgegen und behinderte seine Flucht. Slen fluchte lästerlich.

    So schnell er konnte, schlug er sich mit seinem Langdolch eine Gasse in die Dornensträucher. Unter sich hörte er die Dorfbewohner. Sie hatten den Abbruch auch schon erreicht und versuchten zu ihm zu klettern. Aber diesmal behinderte das lose Erdreich seine Häscher! Verbissen arbeitete Slen sich durch das Strauchwerk. So plötzlich, wie er in die Sträucher geraten war, so kam er auch wieder heraus. Vor ihm erstreckte sich eine Wildwiese, die einige Spannen weiter an einem Wald endete.
    „Der Mörder will zum Wald!" brüllte jemand, als Slen auf die Wiese trat.

    Wenn der Spieler eines in seinem bisherigen Leben gelernt hatte, dann war es laufen! Wie oft ein schlechter Verlierer schon versucht hatte seine Barschaft mit Gewalt zurück zu holen, konnte Slen schon nicht mehr aufzählen. Selten war es einem gelungen. Deshalb rannte er auch jetzt los.
    Die Umgebung jagte an ihm vorbei und der Wald rückte rasch heran. In seinem Rücken erhob sich enttäuschtes Geschrei. Die Dorfbewohner fielen zurück! Ohne seinen Lauf zu bremsen, hetzte Slen in das Unterholz des Waldes. Das Licht wurde schwächer, als sich das Blätterdach über seinem Kopf schloss. Slen hielt an und stützte sich an einem Baum ab. Von den Dorfbewohnern war nichts mehr zu sehen. Er war ihnen entkommen!

    Langsam ging er weiter in den Wald hinein, während er seine Situation überdachte. Die Dorfbewohner suchten einen Mörder. Das Opfer hatte man wohl in der letzten Nacht entleibt. Da jemand aus dem Dorf behauptete, er habe Slen wieder erkannt, obwohl er nicht in dem Dorf gewesen war, musste diese Person die wirklichen Mörder kennen! Ein Spieler musste sich ja viele Dinge nachsagen lassen, aber Slen wollte keinesfalls als Mörder gesucht werden! Ihm reichte es völlig, dass man ihn wegen Betruges und Falschspiel in den meisten Städten suchte. Obwohl auch diese Anschuldigungen nicht wahr waren!
    Bedauerlicherweise zählte das Wort eines reichen Städters mehr als das eines umherziehenden Spielers.

    Diesem Mann aus Yjan-Calliorn verdankte Slen seine ungeliebte Wanderschaft in den Süden. Dabei hatte er doch nur eine wundervolle Nacht mit dessen hübscher Tochter verbracht! Slen schüttelte ärgerlich den Kopf. Gedankenspielereien halfen ihm hier nicht weiter! Er musste die wahren Täter entlarven und den Dorfbewohnern übergeben, damit er in Frieden weiterziehen konnte. Und er musste darauf achten, dass die Dorfbewohner sich nicht eher an die Gerichtsbarkeit wandten ehe er sich nicht in sicherer Entfernung befand. Ansonsten würde man seine Spur wieder aufnehmen und dann würden ihn die Häscher des Kaufmannes bis nach Vian hetzen! Slen fluchte ärgerlich. Warum musste das Leben nur immer so kompliziert sein? Er sah sich wieder bewusst um. Um ihn herum war dichtes Unterholz, wie man es nur im tiefen Wald findet. Hier würde ihn so leicht keiner finden! Erleichtert ließ er sich zu Boden sinken. Das Geschrei der Dorfbewohner war längst hinter ihm zurück geblieben. Nur die Geräusche des Waldes waren noch zu hören. Slen lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Möglicherweise wäre es klüger einfach weiter zu ziehen, aber Slen konnte nicht! Es war ihm schon immer zuwider gewesen, wenn einem Unschuldigen eine falsche Klage Strafe einbrachte. Er hatte wenige Jahre nach der Invasion aus Ailan das Licht der Welt erblickt und sein Vater hatte ihm vor dessen Tod von den miesen Methoden erzählt, mit denen damals unbeliebte Personen einfach durch falsche Beschuldigungen aus dem Weg geräumt wurden.

    Auch in den heutigen Tagen brauchte man einen Menschen nur bezichtigen ein Nachfahre der grünäugigen Kreener zu sein und schon ereilte ihn ein böses Schicksal. Slen hatte nichts gegen Menschen mit grünen Augen. Da waren ihm die Priester, die über den Ruinen des alten Kreen hausten, viel unsympathischer. Sie verfluchten die Magie nach außen, aber was sie hinter den Mauern ihres Priesterstaates trieben konnte nichts anderes sein!
    Slen zwang seine Gedanken zu dem eigentlichen Problem zurück. Er hatte viel zu wenig Informationen, um einen Plan entwerfen zu können. Also musste er sich zuerst einmal Informationen verschaffen!
    Slen schloss seine Augen und ließ vor seinem inneren Auge das Bild der Dorfmenge erscheinen. In der Menge der Gesichter zeigten zwei eine unerklärliche Erleichterung. Mit diesen beiden Männern sollte er den Anfang machen. Jemand, der sich in einer solchen Lage über das Erscheinen eines Fremden freute, musste daraus einen Vorteil ziehen können. Der einzige Vorteil, den Slen sich im Moment denken konnte, war sein Nutzen als Sündenbock. Demnach mussten diese Männer mindestens Komplizen des wahren Mörders sein.

    Eine dunkle Wolkenfront zog aus dem Südwesten herauf und kündigte ein Gewitter an. Schon rollte der erste ferne Donnerschlag über das Land. Der Wind frischte auf. Tinder zog fröstelnd seine Schafsfelljacke enger. Wieder schweifte sein Blick zum Waldrand. Irgendwo dort musste der Fremde sein.
    Borsk, der Wirt, hatte einige Dorfbewohner als Wachen aufziehen lassen. Sie sollten den Fremden fangen, wenn er noch einmal zum Dorf wollte. Als Tinder sich auch zur Wache meldete hatte Borsk ihn böse angestarrt, aber nichts weiter gesagt. War es ihm nicht recht gewesen?

    Tinder blickte besorgt auf die Regenfront, die jetzt rasch näher kam. Ein Gewitterregen würde das Bergland in Dunkelheit tauchen. Der Regen fiel immer so dicht, daß er seine Schafe nicht mehr sehen konnte. Er würde auch den Waldrand nicht mehr sehen können. Vielleicht war das der Moment in dem der Fremde die Postenkette durchbrechen wollte. Tinder fröstelte wieder.
    Er würde krank werden, wenn er hier auf freiem Feld blieb. Verstohlen sah er zu den anderen. Sie zogen sich in den Schutz von kleinen Zelten zurück. Niemand achtete auf ihn. Tinder reckte entschlossen sein Kinn vor. Er würde den Fremden nicht entkommen lassen! Als der Regen losbrach rannte er auf den Wald zu.

    Slen grinste, als er den Schäfer auf sich zu rennen sah. Als Slen die fernen Boten des Gewitters gehört hatte war er zum Waldrand zurückgekehrt.
    Wie er vermutet hatte umstanden Wachen der Dorfbewohner den Wald. Aber die würden ihn im Schutz des Unwetters nicht sehen können! Dann entdeckte er den Schäfer unter den Wachen. Er gehörte zu den zwei Männern, die Slen aufzusuchen gedachte. Freundlicherweise kam er selbst zu Slen. Er war wohl nicht der Klügste. Andererseits war er irgendwie in diesen Mord verwickelt. Wenn er tatsächlich ein wenig zurückgeblieben war, dann hatte man ihn mit Sicherheit nur benutzt. Slen beobachtete den Schäfer weiter. Inzwischen hatte der Himmel sich verdunkelt und es regnete in wahren Strömen. Nur noch undeutlich war die Gestalt des Schäfers zu erkennen. Er rannte unverwandt auf den Waldrand zu. Slen hätte gerne seine Schleuder benutzt, um den bulligen Schäfer zu betäuben. Aber dann konnte er ihm keine Fragen stellen.

    Also musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Vorsichtig zog er das Seil aus seinem Beutel und wog es abschätzend in der Hand. Er hatte es vor einigen Monden von einem Dieb gewonnen. Es war nicht so plump und schwer wie normale Seile, aber von erstaunlicher Festigkeit.
    Eine Sturmböe peitschte die Bäume und Sträucher beiseite und überschüttete Slen mit einer Woge kalten Wassers. Die Kälte kroch ihm sofort in die Glieder. Slen schüttelte sich ärgerlich. Im gleichen Augenblick wuchs die Gestalt des Schäfers vor ihm empor. Der Mann grunzte wie ein wütender Bär und breitete seine mächtigen Arme aus. Slen stieß einen Fluch aus, der mancher feinen Dame die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Slen ließ sich einfach nach hinten fallen, als die Arme ihn zu umschließen drohten. Mit einer schnellen Drehung kam er wieder auf die Beine. Der Schäfer starrte noch erstaunt auf seine leeren Arme.

    „Was willst du Riese von mir, Schäfer?" rief Slen ihm entgegen.
    „Ich werde dich fangen, damit die Dorfbewohner dich strafen können!" brüllte Tinder zurück und stürmte wieder vor.
    „Wofür wollen sie mich denn strafen?" fragte Slen weiter, während er mit wenigen Schritten dem Angriff entging.
    „Du sollst für den Mord an Jemde, dem Dorfoberhaupt, bestraft werden! So hat es Borsk beschlossen!" antwortete Tinder wütend. Mit halberhobenen Armen wandte er sich wieder um. Slen winkte ihm lächelnd zu. Tinder stieß einen lang gezogenen Schrei aus und stürmte erneut voran.
    „Warum hat ausgerechnet Borsk das beschlossen? Ist er einer der Dorfältesten?" fragte Slen ungerührt weiter. Tinders Angriff ging wieder ins Leere. Schnaufend blieb er stehen und suchte nach seinem Opfer. Slen trat hinter einem Baum hervor und winkte wieder.
    „Hier bin ich, Schäfer! Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet." erinnerte Slen ihn lächelnd. Je wütender dieser Bulle war, desto mehr würde er ausplaudern. Leider wurde er auch immer gefährlicher dadurch. Sollte er Slen einmal zu fassen kriegen, dann gab es kein Entkommen mehr!
    „Damit die Dorfbewohner keine Fragen mehr stellen!" keuchte Tinder zornig.
    „Sonst könnten sie wohl dem wahren Täter auf die Spur kommen." vermutete Slen laut, um den Schäfer zu einer weiteren Antwort zu verlocken.

    „Das wird Borsk schon verhindern, denn Borsk ist ein schlauer Mann." sagte Tinder auch prompt.

    „Wenn die Dorfbewohner mich nicht bekommen, dann wird Borsk sich einen anderen Schuldigen suchen müssen, Schäfer! Ich denke, dass er dann einen seiner Komplizen ans Messer liefern wird!" erwiderte Slen. Tinder runzelte nachdenklich seine Stirn.
    „Oh ja, Schäfer. Er wird den Komplizen nehmen, der mit Worten nicht so geschickt ist wie er selbst. Ich denke daher, dass du dann der Schuldige sein wirst, Schäfer!" fuhr Slen fort. Deutlich erkannte er die Zweifel beim Schäfer. Slen hielt seine Aussage nicht mal für gelogen. Wenn dieser Borsk so gerissen war, einen Fremden anzuklagen, dann würde er sich kaum scheuen den Schäfer ebenfalls zu beschuldigen.
    „Vielleicht tötet er dich auch einfach, Schäfer! Borsk wird jede Gefahr für sich aus dem Weg schaffen!" hielt Slen ihm weiter vor.

    Tinder sah ihn erschrocken an.
    „Warum sollte er das tun?" fragte er Slen erschrocken.
    „Aber Schäfer. Du hast dich von mir reizen lassen und Borsks Namen verraten. Er müsste immer befürchten, dass du ihn im Streit verrätst. Schon deshalb muss er dich zum Schweigen bringen." setzte Slen ihm geduldig auseinander. Tinder senkte seine Arme.
    „Du siehst also, dass es dir nichts bringt, wenn du mich einfängst. Aber ich könnte dir helfen! Wir beide zusammen könnten die wahren Schuldigen ihrer gerechten Strafe zuführen." schlug Slen ihm weiter vor.
    „Warum willst du das tun, Fremder?" fragte Tinder misstrauisch.
    „Alleine komme ich nicht lebend ins Dorf, Schäfer! Wenn du mir aber hilfst, dann schaffe ich es. Im Dorf können wir dann mit den Ältesten sprechen." erklärte Slen es ihm. Tinder winkte ärgerlich ab.
    „Du wirst mich auch nur anklagen, Fremder!" zischte er.
    „Du bist doch nur von Borsk benutzt worden, Schäfer! Warum sollte ich dich anklagen?" hielt Slen ihm ruhig entgegen.
    „Ja!" antwortete Tinder und nickte bekräftigend, „ Er brauchte mich nur zum Tragen der Beute." Slen kam vorsichtig näher.
    „Dann kannst du die Dorfältesten doch auch zur Beute führen, Schäfer. Ich bin sicher, dass sie ein Einsehen mit dir haben werden." schlug Slen ihm vor. Ein gewaltiger Donnerschlag unterbrach das Gespräch. Ein Blitz schlug krachend in einen einzeln stehenden Baum ein. Das Unwetter war da!

    „Borsk wird es verhindern wollen!" überbrüllte Tinder den heulenden Wind.
    „Bei diesem Unwetter wird er uns nicht sehen!" antwortete Slen genau so laut. Nach einem langen Augenblick nickte Tinder zustimmend.
    „Ich werde dich ins Dorf führen!" teilte er schreiend mit. Wieder zuckte ein Blitz auf, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Beide Männer waren bereits nass bis auf die Haut, die von dem kalten Wind eine ungesunde Blässe angenommen hatte. Sturmböen rissen an der Kleidung der Männer, die wie Schiffssegel knatterten. Es war inzwischen stockfinster geworden. Nur die Blitze erhellten kurzzeitig die Umgebung.

    Slen hielt sich im Windschatten des Schäfers, während dieser seine Kräfte gegen den Sturm stemmte. Die Wiese war schon knöchelhoch mit Wasser bedeckt. Slen gratulierte sich einmal mehr bei seinen Stiefeln nicht geknausert zu haben. Im Gegensatz zum Rest seines Körpers waren seine Füße noch trocken.
    Beim Kampf gegen das Unwetter verlor Slen jedes Zeitgefühl. Als sie die ersten Häuser des Dorfes aus den Regenschleiern auftauchen sahen, meinte Slen schon Stunden unterwegs zu sein.
    Tinder führte ihn direkt zum Gemeinschaftshaus des Dorfes in dem er die Ältesten vermutete. Als sich die schwere Holztür hinter ihnen schloss, blieb auch das Tosen des Sturmes draußen. Im Langhaus des Dorfes war es erstaunlich still. Der große Kamin aus Feldsteinen an der Stirnseite verbreitete eine angenehme Wärme. Die gebeugten Gestalten der Ältesten hoben sich gegen das Feuer ab.

    „Wer ist da?!" erkundigte sich eine brüchige Stimme. Langsam wandten sich die Dorfältesten um.
    „Tinder, der Schäfer." antwortete Slens Begleiter sofort und trat in den Lichtschein des Feuers.
    „Aber du bist nicht allein, Schäfer. Wer ist mit dir?" fragte der Alte, der wohl der Wortführer zu sein schien. Slen sah, das dessen Augen noch klar waren. Man durfte sich von seinem Alter nicht täuschen lassen.
    „Ich wurde beschuldigt einen Mord begangen zu haben. Ich bin gekommen, um meine Unschuld zu beweisen." sagte Slen ruhig und trat ebenfalls ins Licht. Der alte Mann lächelte mit wissendem Nicken.
    „Tritt näher, Fremder. Wir haben dich schon erwartet." erwiderte der Alte. Slen trat ohne Zögern vor. Er wusste jetzt, dass sein erster Eindruck von dem Alten richtig gewesen war. Es wunderte ihn auch nicht, dass man ihn bereits erwartet hatte. Der Alte blickte ihn freundlich an.
    „Wir sind keineswegs so einfältig, wie mancher hier im Dorf glaubt." sagte der Alte mit einem belustigten Glitzern in den Augen.

    „Kein Mörder und Dieb wäre so dumm einen Ort arglos aufzusuchen, in dem er in der Nacht zuvor einen Mord begangen hat." sagte eine weißhaarige Frau. Slen nickte zustimmend.
    „Gegen den Mob heute Morgen hätte ich keine Chance gehabt. Die Leute hätten mich bei lebendigem Leib zerrissen. Ich musste fliehen!" erwiderte Slen mit müder Stimme.
    „Alles andere wäre deinem Leben sehr abträglich gewesen, Fremder." stimmte ihm der Alte zu.
    „Du hast dir unser offenes Ohr mit deinem Kommen verdient. Sprich also offen zu uns." erklärte die Frau ihm und deutete auf einen Schemel. Slen setzte sich dankbar.
    „Eigentlich kann ich euch nicht viel berichten." begann Slen.
    „Du hättest einfach fliehen können, Fremder. Aber du bist zurückgekommen. Demnach bedeutet dir Gerechtigkeit noch etwas. Du willst die wahren Schuldigen finden, nicht wahr?!" unterbrach ihn der Alte.
    Slen spürte die einschläfernde Wirkung des Feuers. Die wohlige Wärme nach den Strapazen des Unwetters. Aber er riss sich zusammen.
    „So könnte man es sagen. Mir fiel heute Morgen in der Menge jemand auf, der eifrig bemüht war, gegen mich Stimmung zu machen. Mir kam später der Verdacht, dass dieser Jemand mich vorschieben wollte. Indem er den wütenden Bewohnern eures Dorfes ein Opfer in die Fänge trieb." setzte Slen wieder an. Wieder hob der Alte seine Hand, um ihn zu unterbrechen.



    „Tinder, was drückst du dich da hinten rum. Tritt zu uns ans Feuer!" forderte er den Schäfer auf, der beim Eingang zurückgeblieben war. Mit schuldbewusstem Gesicht kam Tinder zum Feuer.
    „Du bist nicht ohne Grund gekommen, Schäfer. Nun ist es für dich an der Zeit zu sprechen!" gebot er Tinder. Slen war überrascht, welche Kraft in der Brüchigen Stimme des Alten lag. Gehorsam trat Tinder in die Mitte des Ältestenrates und begann stockend zu erzählen.
    Nichts von dem, was er sagte, schien den Alten zu überraschen.
    „Ja, so in etwa haben wir uns die Angelegenheit auch gedacht," seufzte der Alte, nachdem Tinder geendet hatte, „ Borsk war schon immer ein habgieriger Mensch und neidete anderen ihren Reichtum. Nun ist er also zum Mörder, Dieb und Hundsfott geworden!"
    Slen atmete tief durch. Jetzt kannten die Dorfältesten den wirklichen Täter. Plötzlich wandte der Alte sich ihm wieder zu.

    „Damit wäre diese Schuld von dir genommen, Fremder. Trotzdem lastet noch eine andere Schuld auf deinen Schultern. Du musst wissen, dass die großen Städte nicht so fern sind, wie man denken könnte. Dein Feind muss sehr reich sein, Slen val Drakeen, und er muss dich wirklich hassen!" sagte er ruhig.
    Slen konnte nur mit Mühe jede Reaktion unterbinden.
    „Ist er mir dicht auf den Fersen?" erkundigte er sich fast teilnahmslos.
    „Niemand weiß von deinem Aufenthalt, auch wenn du nur Slen, der Spieler, bist. Wir erbitten nur eine kleine Gefälligkeit von dir." beruhigte der Alte ihn. Slen entspannte sich wieder etwas.
    „Was sollte das sein?" fragte Slen neugierig. Der Alte grinste schon wieder.
    „Wir würden gerne die Vorgeschichte dieser merkwürdigen Jagd erfahren." rückte er immer noch schmunzelnd mit der Sprache raus.

    „Sollten wir nicht erst einmal diesen Borsk überführen?" wechselte Slen das Thema. So interessant seine Geschichte einem Fremden auch erscheinen mochte, er erinnerte sich nicht gerne daran.
    „Borsk wird seiner Strafe nicht entgehen, Slen! Morgen früh ist eine Abteilung Reiterei im Dorf. Sie werden der Gerechtigkeit genüge tun!" winkte der Alte beruhigend ab. Slen blickte erschrocken hoch, aber der Alte winkte beruhigend ab.
    „Dir wird keine Gefahr drohen. Zu diesem Zeitpunkt bist du nicht mehr hier, Slen. Du bekommst von uns einige Vorräte für deine Reise, aber nun erfreue uns alte Leute mit einer Geschichte. Wir hören hier oben in den Bergen so selten Abenteuer aus den Städten, weißt du? Außerdem brauchst du nicht um dein Geheimnis zu fürchten, Slen. Es ist bei uns sicher!" bat ihn der Alte erneut. Slen rutschte unbehaglich auf seinem Schemel umher.

    „Es ist nicht leicht eine solche Geschichte zu erzählen," erklärte er zögernd, „ und es hat nichts damit zu tun, dass ich euch misstrauen würde. Ich war den größten Teil meines Lebens allein." Die interessierten Gesichter der Alten irritierten ihn.
    „Nun, wir haben von den umherziehenden Söldnern gehört, dass ein reicher Kaufmann aus Yjan-Calliorn ein hohes Kopfgeld auf dich ausgesetzt hat." half ihm der Alte einen Ansatz zu finden.
    „Der Kaufmann hat eine Menge Beschuldigungen erfunden, um mich zu einem Gejagten zu machen. Und das Wort eines reichen Mannes aus der Gilde der Kaufleute zählt weitaus mehr als das eines kleinen Spielers!" erwiderte Slen verbittert. Schon stiegen die unerfreulichen Bilder wieder in ihm auf.
    „Als ich vor einigen Monden das letzte Mal in Yjan-Calliorn weilte, lernte ich auf dem alten Marktplatz ein Mädchen kennen. Sie kam jeden Tag und sah mir beim Spielen zu. Dabei lächelte sie mich immer an, so dass ich sie schließlich ansprach. Sie hieß Tareen. Nun, sie gefiel mir und ich gefiel ihr! Wir trafen uns bald darauf jeden Abend. Anfangs wollte sie ein paar Tricks von mir lernen, dann wurde es mehr."
    „Du hast dich in die Kleine verliebt, nicht wahr?!" unterbrach ihn der Alte mit seinem wissenden Lächeln.
    „Davor ist der beste Spieler nicht gefeit!" seufzte Slen, dann verfinsterte sich sein Gesicht.

    „Sie wollte unbedingt, dass ich mit ihr nach Hause komme. Eines Abends ging ich mit. Ich kam nicht dazu, mich über die kostbare Einrichtung zu wundern. Sie zog mich in ihr Zimmer. Ihre Küsse waren fordernd und ich gab willig nach. Plötzlich brüllte jemand und im nächsten Augenblick wurde ich gepackt. Man beschimpfte mich und schlug auf mich ein. Ich wehrte mich nach Kräften und entkam. Der Mann brüllte mir die schlimmsten Verwünschungen hinterher. Ich habe seine Tochter entehrt und würde dafür zahlen müssen!
    Erst am nächsten Tag stellte ich fest mit wem ich mich in der Nacht angelegt hatte! Ich verließ die Stadt in großer Eile und seit dem bin ich auf der Flucht." fuhr er mit knappen Worten fort.
    „Der Kaufmann legt wohl großen Wert auf seinen Namen. In der heutigen Zeit ist es nicht einfach, eine so umfassende Jagd durchzuführen. Das Reich ist brüchig geworden. Viele der südlichen Provinzen fallen ab. Da muss ein Mann gute Kontakte haben!" stellte der Alte sinnend fest.
    „Auch andere Fürstentümer lösen sich aus der Herrschaft heraus." fügte die weißhaarige Frau hinzu. Slen runzelte die Stirn. Warum sprachen die Alten jetzt davon?
    „Wir wollen dir damit raten in den Süden weiter zu ziehen, Slen." sagte der Alte, der seine Gedanken zu erraten schien.

    „Ihr meint, dass ich dort sicherer wäre?" erkundigte Slen sich überrascht.
    „Im Süden gibt es mehr Matriarchate. Dort kann ein Mann nicht mehr viele Helfer haben!" erklärte die Frau ihm zuversichtlich. Das leuchtete Slen ein. Von innerer Unruhe getrieben sprang er auf.
    „Ich danke euch für euer Vertrauen! Innere Unrast treibt mich zum Aufbruch. Ich möchte möglichst weit von der Reiterschar weg sein, wenn sie euer Dorf erreicht!" erklärte er den Alten. Diese lächelten verstehend.
    Das Unwetter hatte sich verzogen, als Slen wieder auf die Straße trat. Er blickte sich noch einmal kurz um, dann schritt er kräftig aus und verschwand in der Nacht.



    Ende

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    Die Fortsetzung zu "Der Sündenbock":

    Seltsame Begegnung



    Immer näher kam das Hufgetrappel der Verfolger. Vared wagte nicht, über seine Schulter zu blicken. Zu groß war seine Angst, daß er das vernarbte Gesicht des Bandenführers dicht hinter sich entdeckte. Viel zu deutlich konnte er das Knarren des Sattelleders hören.
    „Gleich haben wir dich, Bursche!" brüllte eine rauhe Stimme hinter Vared.
    Noch einmal versuchte der Junge durch einen plötzlichen Haken den Räubern zu entkommen. Aber er erntete nur brüllendes Gelächter! Etwas zischte durch die Luft und schnürte ruckartig Vareds Arme an seinen schmächtigen Körper. Mit einem leisen Schrei fiel der Junge zu Boden.
    „Na also!" brummte eine Männerstimme irgendwo über ihm.


    „Was sollen wir mit dem Bürschchen, Brydok? Willst du ihn etwa mitschleppen?" erkundigte sich eine andere Stimme, deren Besitzer neben Vared hocken musste. Keuchend riss der Junge seine Augen auf. Direkt vor ihm saß der Bandenführer auf seinem schwarzen Hengst, die Augen nachdenklich auf den Jungen gerichtet. Vared begann zu zittern. Jetzt ging es um sein Leben! Bei den restlichen Mitgliedern der Handelskarawane, unter denen auch Vareds Eltern geweilt hatten, zeigte die Bande keinerlei Gnade. Wie eine Horde von brüllenden Dämonen waren sie aus dem Wald gestürmt und hatten die Kaufleute und Karawanenwächter wie Vieh abgeschlachtet! Seine Mutter hatte ihm noch zugerufen, er solle weglaufen, bevor ein Reiterspeer sie durchbohrte. Nur Augenblicke später war Vareds Vater durch einen Schwerthieb gestorben. Erst als die beiden sich nicht mehr rührten war Vared losgelaufen, aber da hatten ihn schon einige der Räuber gesehen. Würde er jetzt das Schicksal seiner Eltern teilen müssen?


    „Warum nicht, Berda? Nach diesem Überfall müssen wir vorerst in den Sümpfen untertauchen, denn die Städte werden Truppen ausschicken!" meinte Brydok mit einem Blick auf die Berge. Vared schnappte überrascht nach Luft. Dieser Brydok kannte sich scheinbar in dieser Gegend aus. Aber die Sümpfe? Jeder Bauer wusste doch, dass in den Sümpfen schreckliche Gestalten hausten.
    „Warum nicht?! Na, wegen diesen schuppigen Lurad natürlich! Beim letzten Mal haben wir durch sie fast ein Drittel unserer Männer verloren." sagte Berda aufgebracht. Brydok verzog sein Gesicht zu einem grausamen Grinsen.
    „Immer noch besser, als sich den Truppen aus Sequa entgegenzustellen!" erinnerte er Berda. Inzwischen waren noch zwei weitere Räuber aus ihren Sätteln gestiegen und banden Vareds Hände. Der Junge wehrte sich nicht mehr, denn der Schrecken über das Reiseziel lähmte ihm alle Glieder.
    „Du weißt doch genau, daß diese Lurad-Echsen das Fleisch dieses Jungen über große Entfernungen wittern können, Brydok! Und dann fallen sie in Scharen über uns her." warf Berda ihm leiser vor. Diesen Teil des Gespräches sollten offenbar nicht alle hören. Vared wünschte sich jetzt auch, dass er diese Worte nicht gehört hätte. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Die Lurad-Echsen wollten sein Fleisch! Vareds Gedanken gaukelten ihm schreckliche Bilder vor, so dass der Junge mit einem Seufzer das Bewusstsein verlor. Berda wandte sich erstaunt um, als der Leib des Jungen gegen ihn prallte. Im nächsten Augenblick lachten Brydok und Berda schallend und auch die übrigen Männer fielen ein.


    Als Vared wieder zu sich kam, saß er vornüber geneigt auf dem Rücken eines Pferdes. Sein Körper wurde von dem Reiter hinter ihm senkrecht gehalten.
    „Du solltest nicht alles glauben, was Brydok und Berda erzählen, Junge." sagte der Reiter zu ihm, als Vared sich ganz aufrichtete.
    „Was geschieht jetzt mit mir?" fragte der Junge ihn vorsichtig.
    „Du wirst verkauft!" lautete die lapidare Antwort. Vared versteifte sich unwillkürlich wieder. Er sollte also Sklave werden.
    „Brydok macht immer alles zu Geld, Junge. Niemand kann die Herkunft von Münzen zurückverfolgen! Also kommt man auch nicht auf unsere Fährte." erzählte der Reiter einfach weiter. Vared schauderte. Diese Räuber waren so kalt wie Reptilien! Sie töteten ohne jede Gnade und ihre Gefühllosigkeit wurde nur noch von ihrer Habgier übertroffen!
    „Ihr habt meine Eltern getötet!" sagte Vared dumpf. Der Räuber hinter ihm lachte kurz auf. Sein Lachen klang dabei wie das Gebell eines wilden Hundes. Die Seele des Mannes musste schon lange tot sein.
    „Sie hätten sich ja ergeben können!" gluckste der Räuber erheitert. Vared fühlte, wie in seinem Inneren Zorn aufwallte.
    „Damit ihr sie ebenfalls als Sklaven verkaufen könntet?!" zischte er wütend. Aber sein Ausbruch brachte den Räuber nur wieder zum Lachen. Wenn ich doch nur schon ein Mann wäre, dachte Vared verzweifelt. Doch er zählte gerade erst zwölf Sommer! Hilflos ließ er die Schultern sinken. Was konnte ein Junge wie er schon gegen ein Dutzend Männer mit Schwertern und Speeren ausrichten? Sie alle lachten nur über ihn und seine Hilflosigkeit.


    „Wenn wir Glück haben, dann kauft dich ein Priester oder Gelehrter." redete der Räuber weiter auf Vared ein. Der Junge beschloss, ihm nicht mehr zu antworten. Sollte er sich sein Vergnügen woanders suchen.
    Die Reitergruppe hatte inzwischen die Handelsstraße wieder erreicht und näherte sich dem Ort des Überfalles. Dort hatten die übrigen Räuber die Toten schon verschwinden lassen und die Spuren des Kampfes verwischt.
    Die Männer warteten nur noch auf ihren Anführer, um dann mit der Beute auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Brydok gab ihnen das Zeichen zum Aufbruch. Die Männer besetzten flink die Wagen und ließen die Zugtiere antraben. Vared fiel auf, dass sich die Männer auf den Wagen weite Tuniken über ihre Lederpanzer gezogen hatten. Sie wirkten beinahe harmlos. Jetzt wusste Vared, wie Brydoks Bande ihre Beute beiseite schaffte.


    „Treibt die Tiere an, Leute!" brüllte Brydok den Männern auf den Wagen zu.
    „Die Handelswaren werden schließlich dringend erwartet." rief Berda noch lachend hinterher. Alle Räuber fielen in das Gelächter ein. Vared verzog angewidert sein Gesicht. Was waren das nur für Menschen? Er wünschte ihnen die grünäugigen Dämonen von Kreen an den Hals. Der Wagenzug bewegte sich unbehelligt auf der Handelsstraße nach Sequa. Zweimal ritt eine kleine Schar Soldaten an ihnen vorbei, aber die Männer bemerkten nichts. An der Furt über den Syla sprach sogar ein Offizier mit Brydok, der plötzlich wie ein ehrbarer Mann sprach. Vared hatte ihm den Schwindel nachweisen wollen, aber eine schwielige Hand verschloss ihm den Mund bevor er nur ein Wort herausbrachte.
    „Wenn dir dein Leben lieb ist, dann schweigst du besser!" zischte sein Bewacher dicht an seinem Ohr. Vared unterließ jede weitere Gegenwehr. Seine Chance würde noch kommen, dessen war er sicher. Die Mörder seiner Eltern mussten bestraft werden! Dem Jungen wurde plötzlich bewusst, dass er keine Familie mehr hatte. Vared schluckte krampfhaft. Vor diesen Mördern wollte er seinen Tränen keinen Lauf lassen. Trotzdem brannten seine Augen als hätte er Nesselsaft hinein gerieben. Er schniefte trotzig und reckte seine schmalen Schultern.


    Die Worte seines Vaters fielen ihm wieder ein:
    „Du musst kein furchtloser Krieger sein, Vared. Mut allein ist nicht alles. Was dir an Stärke fehlt, muss dein Verstand ausgleichen!" Er musste die Räuber in Sicherheit wiegen und den Verzweifelten spielen.
    Ihre Aufmerksamkeit würde irgendwann schon erlahmen. Diesen Augenblick galt es zu nutzen! Er musste dann fliehen und die nächste Garnison oder Stadt erreichen. Von dort würden dann Soldaten aufbrechen, um die Bande zu stellen.
    „Na, Junge? Du bist ja so still geworden." sagte der Bandit hinter ihm mit spöttischer Stimme. Vared ließ seine Schultern wieder sinken und schniefte erneut. Daraufhin lachte der Räuber glucksend. Vared senkte auch den Kopf, damit niemand sein zufriedenes Grinsen sah. Als der Bandit seinen Griff lockerte, wusste Vared, dass sein Plan funktionieren würde. Er spielte seine Rolle weiter. Als die Sonne sich dem fernen Horizont zuneigte ließ Brydok die Wagenkolonne in ein kleines Felsental einfahren.
    „Errichtet das Nachtlager und denkt daran: Wir sind ehrbare Leute!" rief er seinen Männern zu. Nicht alle der Räuber lachten. Auch Vareds Bewacher schien sich nicht besonders wohl zu fühlen.
    „Schon wieder dieses verfluchte Tal!" knurrte er leise. Vared horchte auf.
    „Ein verfluchtes Tal?" fragte er zaghaft. Sein Bewacher grunzte ärgerlich.
    „Es wird von den Leuten in der Umgebung das Dämonentor genannt." erwiderte der Räuber schließlich. Man hörte ihm an, dass er nicht gerne darüber sprach. Vared wandte vorsichtig den Kopf und blickte seinem Bewacher ins Gesicht. Der Mann hatte Angst, dass sah er ihm deutlich an.
    „Warum nennt man es das Dämonentor?" bohrte Vared weiter. Möglicherweise konnte ihm dieses Tal nützlich sein und seine Flucht unterstützen.


    „Es heißt, dass in diesem Tal in manchen Nächten Furchterregende Gestalten umherstreifen. Zu dem sind hier über die Jahre viele Menschen spurlos verschwunden. Einige fand man regelrecht zerrissen dort oben in den Felsen, andere irrten ohne Geist umher." erklärte sein Wächter zögernd.
    „Vielleicht wohnten die Dämonen mit den grünen Augen einst in diesem Tal?" überlegte Vared laut, obwohl ihm selbst nicht wohl bei dem Gedanken war. Sein Wächter machte ein schnelles Schutzzeichen. Vared bemerkte es. Sein Bewacher fürchtete die Dämonen also besonders. Dann würde er in der Nacht andere Sorgen haben als die stetige Bewachung des Jungen. Vared gestand sich selbst ein, dass er auch Angst hatte. Aber er durfte diese Chance zur Flucht nicht ungenutzt lassen.


    „Hey, Tauro! Steig endlich von deinem Gaul und binde den Jungen da hinten an den Baum. Aber verletze ihn nicht! Verletzungen mindern den Preis!" forderte Berda seinen Bewacher auf. Mit einem leisen Fluch stieg Tauro aus dem Sattel und hob Vared vom Pferd. Er zog den Jungen zu dem Baum und band ihn lustlos fest.
    Vared fühlte, wie locker die Fesselung anlag. Tauro sah immer wieder zu den Felsen empor.
    Inzwischen waren die Wagen abgeschirrt worden. Mehrere Feuerstellen wurden entzündet. Brydok rief seine Männer zu einer Besprechung zusammen. Tauro ließ Vared alleine und ging ebenfalls zum großen Feuer. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen über den Himmel und wich dann der Nacht. Im Felsental herrschte bereits Nacht. Die hohen Steinwälle verkürzten die Dämmerung. Vareds Platz unter dem Baum versank in der Dunkelheit. Der Junge wusste, dass Tauro keine Eile haben würde zu seinem einsamen Posten zurückzukehren.
    Vorsichtig bewegte er sich. Wie erwartet gaben die Seile nach und Vared bekam seinen rechten Arm frei.
    Rasch öffnete er die Knoten und befreite sich ganz. Das Seil wickelte er daraufhin um seinen Bauch. In den Bergen würde es noch nützlich sein. Zur Sicherheit blickte er noch einmal zum großen Feuer, aber die Räuber lauschten gebannt ihrem Anführer. Ohne zu zögern schlich Vared hinter die ersten Felsen. Wie ein schwarzes Tuch umfing ihn die Nacht. Die Geräusche und Stimmen des Lagers klangen irgendwie verzerrt. Vared begann zu rennen. Einzelne Lichtreflexe des fernen Lagerfeuers erhellten ab und zu die Felsen. Plötzlich blieb Vareds Fuß irgendwo hängen und der Junge stürzte hart zu Boden. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen und verhinderte seinen Schreckensschrei. Sand knirschte zwischen seinen Zähnen. Vared tastete schnell sein Bein ab und erfühlte die borkige Rinde einer Wurzel. Erleichtert atmete er auf. Doch keine Dämonen, die ihn in finstere Tiefen zerren wollten! Langsam stand er wieder auf und schritt nun vorsichtiger aus. Im Lager erhob sich plötzlich Geschrei. Man hatte seine Flucht entdeckt! Vared begann wieder zu rennen.


    Er musste unbedingt die Felsen der Bergausläufer erreichen. Hinter ihm leuchteten die ersten Fackeln auf, als die Räuber ausschwärmten. Zweige peitschten in Vareds Gesicht und hinterließen brennende Striemen. Sein Atem ging keuchend, aber die Angst trieb ihn vorwärts. Sie durften ihn nicht wieder einfangen, sonst wäre er verloren! Vared gelangte in einen schmalen Durchlass, hinter dem sich ein weiteres Tal erstreckte. Allerdings konnte er nicht besonders viel davon sehen. Durch einen schnellen Blick über die Schulter überzeugte er sich, dass die Verfolger außer Sicht waren. Im schwachen Licht der Sterne wirkte alles um ihn herum finster und bedrohlich. Vared versuchte, seinen keuchenden Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Soweit er dabei erkennen konnte, wurde das Tal von einem Wald bedeckt. Wie haarige Riesen wirkten die Bäume in der Finsternis. In den Geschichten, die seine Mutter ihm früher erzählt hatte, waren solche Wälder stets die Heimat von Hexen und Dämonen oder Waldgeistern gewesen. Diese Wesen waren nicht gerade freundlich zu den Menschen. Vared schauderte für einen Moment, dann hörte er die Rufe seiner Verfolger wieder. Ohne weiter zu zögern rannte er in den Wald hinein. Als er zwischen den ersten Bäumen hindurch gelaufen war, wandelte sich seine Umgebung überraschend.

    Irgendwo aus dem Inneren des Waldes kam ein eigentümliches silbernes Licht. Vared erkannte in seinem Schein einen schmalen Pfad vor sich, der durch das Unterholz führte. Diesmal zögerte er nur ganz kurz, bevor er dem Pfad folgte. Seine Neugier überflügelte die Angst. Welche Quelle wohl ein solches Licht ausstrahlen mochte? Je weiter er dem Pfad folgte, desto heller wurde der Lichtschein. Vared atmete unwillkürlich flacher, als ihm die Ehrfurcht gebietende Stille an diesem Ort bewusst wurde. In seinem Bauch machte sich ein flaues Gefühl breit. Vared wusste plötzlich, dass hier ein magischer Ort von großer Kraft lag. Aber er hätte nicht erklären können, wie er zu dieser Erkenntnis gekommen war. In seinem Kopf erklang eine leise Melodie, die er noch nie vorher gehört hatte. Trotzdem glaubte er sie zu kennen. Die Angst fiel von ihm ab. Man wollte ihm hier nichts Böses!


    Zwischen den mächtigen Stämmen hindurch erblickte Vared eine Lichtung. Von dort kam auch das silberne Licht. Als der Junge die Lichtung betrat veränderte sich das Licht. Vared blickte sich aufmerksam um. Nirgends war ein Feuer zu sehen. Das Licht strahlte einfach aus der Luft. Ähnlich wie am Tag die Sonne, so stand ein leuchtender Ball in der Luft. Aber anders als die Sonne blendete er nicht. Vared konnte direkt in das Licht sehen, ohne das seine Augen schmerzten. Die Luft um den Lichtball flimmerte wie an heißen Sommertagen. Der Lichtball strahlte jetzt in einem goldgelben Ton. Ganz plötzlich verstummte die Melodie in seinem Kopf mit einem Missklang. Vared blinzelte überrascht. Was war denn nur passiert? Der Lichtball flackerte im selben Augenblick wie eine Sturmlaterne bei einem Unwetter.

    Vared wich erschrocken bis am die ersten Bäume zurück. Im unsteten Schein des Lichtballes erschien ein Schatten, der rasch größer wurde. Vared spürte, wie seine Angst ihm die Luft abschnürte. Der Schatten nahm die Gestalt eines Mannes mit dunkler Haut an, wie Vared sie noch nie gesehen hatte. Der Mann blickte sich gehetzt um und wirkte gar nicht bedrohlich. Sein Verhalten erinnerte Vared viel mehr an ihn selbst! Der Mann schien auch auf der Flucht zu sein. Ehe Vared sich weitere Gedanken machen konnte erschienen zwei neue Schatten in dem Lichtball. Auch sie wurden zu Männern, die eine Art Rüstung trugen. Sie blickten sich ohne große Hast um. Der andere Mann schrie auf, als er die Gepanzerten sah. Seine Hände hoben sich abwehrend. Die Gepanzerten wandten ihre Köpfe und sahen den Flüchtling. Der eine Gepanzerte sagte etwas, dass Vared nicht verstand. Eine solche Sprache hatte er noch nie gehört. Obwohl ihm der Sinn der Worte unklar blieb, erkannte er am Klang der Worte die Absicht. Die Fremden wollten den Flüchtling beruhigen! Vared wagte kaum zu blinzeln, aus Angst er könnte etwas verpassen.

    Das Geschehen fesselte Vared dermaßen, saß er das Rascheln hinter sich überhörte. Erst als sich eine Hand über seinen Mund schob schreckte er hoch.
    „Zu spät, Bursche! Ich hab dich!" zischte eine rauhe Stimme hinter ihm. Vared erkannte an ihr sofort Berda. Also hatten ihn die Banditen doch noch gefunden. Verzweifelt versuchte Vared sich aus Berdas Griff zu befreien, aber gegen die Kraft des Mannes kam er nicht an. Berda riss Vared empor und wollte mit ihm zwischen den Bäumen untertauchen. In diesem Augenblick sah Vared wie die Gepanzerten in seine Richtung blickten. Ihre Augen hinter den seltsamen Visieren wurden schmal und der eine von ihnen rief etwas. Berda zuckte zusammen. Einer der Gepanzerten streckte seine behandschuhte Hand aus und deutete direkt auf Berda, der ächzend die Luft ausstieß.


    „Dämonenkrieger!" keuchte Berda halblaut. Vared verhielt sich vollkommen still. Er hielt die Gepanzerten nicht für Dämonen. Keiner der beiden hatte grüne Augen! Die Augen des einen waren Blau, wie der Himmel an einem Sommertag und sein Haar hatte die Farbe reifen Korns. Die Augenfarbe des anderen erinnerte an das Meer im Frühling und seine Haare waren braun, genau wie Vareds. Wieder sagte der Gepanzerte mit den blauen Augen etwas. Und diesmal klang seine Stimme drohend. Berda begann am ganzen Leib zu zittern und sein Griff lockerte sich zusehends. Die Gepanzerten machten einen Schritt auf Berda zu, daraufhin ließ dieser Vared los und lief schreiend in den Wald zurück. Die Gepanzerten grinsten belustigt und winkten Vared aufmunternd zu. Vared lächelte zaghaft und winkte zurück. Die beiden Gepanzerten nahmen den Mann in die Mitte, der als erster angekommen war. Er schien jetzt keine Angst mehr zu haben und redete auf die Gepanzerten ein. Langsam schritten sie in das Licht zurück. Bevor sie wieder zu Schatten wurden wandte der Blauäugige noch einmal den Kopf und lächelte Vared zu. Ein Auge zwinkerte freundlich, dann verschwanden die Fremden. Der Lichtball schrumpfte nach ihrem Verschwinden wieder zu einer kleinen silbernen Kugel zusammen. Plötzlich war auch die Melodie wieder in Vareds Kopf.

    Aber auch seine Situation wurde ihm wieder gegenwärtig. Berda war zwar geflohen doch das Hieß nicht, dass seine Verfolger damit aufgegeben hatten! Dieser merkwürdige Ort hatte ihm einmal geholfen, mehr durfte er nicht verlangen. Mit einem Seufzer des Bedauerns verließ Vared die Lichtung und tauchte im Wald unter. Nachdem er die Talwand wieder erreicht hatte, fand er einen Aufstieg in die Felsen. Er kletterte solange es seine Kräfte zuließen, dann sank er erschöpft gegen die Felsen und schlief auf der Stelle ein. Geweckt wurde er von der Morgensonne, deren Strahlen ihn zum Niesen brachten. Erschrocken sprang er auf die Beine und blickte sich um. Unter ihm erstreckten sich die beiden Täler. Vared sah sofort, dass die Wagen nicht mehr im ersten Tal standen. Die Räuber mussten mit ihrer Beute noch in der Nacht aufgebrochen sein! Vared stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Sie waren ihm entkommen! Der Teil des Landes, den Vared von seiner Position aus überblicken konnte, zeigte keine Bewegung. Resignierend sank er auf einen Felsen. Er musste trotzdem sein Wissen weitergeben, überlegte er sich. Vared begann einen Abstieg zu suchen, der ihn gleich in die Ebene brachte.


    In die Täler wollte er nicht unbedingt zurück. Außerdem machte sich bei ihm der Hunger bemerkbar. Sein Magen knurrte vernehmlich. Vared erinnerte sich, dass vor den Felsausläufern ein kleiner Bach floss. Dort würde er wenigstens Wasser finden. Vorsichtig kletterte er wieder hinab. Nicht selten rutschte er aus und zog sich Prellungen und Abschürfungen zu. Seine Sandalen zerschlissen ebenfalls. Als er endlich vor den Felsen stand, machte er einen abgerissenen Eindruck. Sein braunes Haar stand wirr und schmutzig vom Kopf ab, seine Kleidung ähnelte mehr alten Lumpen. Vared versuchte sich am Bach so gut wie möglich zu reinigen, bevor er seinen beschwerlichen Weg antrat. Schließlich hatte er ihn das erste Mal auf einem Pferd zurückgelegt. Vared benötigte fast den ganzen Tag, um wieder zur Handelsstraße zurück zu laufen. Seinen Hunger konnte er unterwegs nicht stillen, so dass dieser immer stärker in ihm brannte. Die Sonne war schon fast untergegangen, als plötzlich Hufgetrappel an seine Ohren drang. Vared richtete sich langsam auf und beobachtete die Straße.


    Schon bald konnte er einen Trupp Reiter ausmachen. Vared hob seine Arme, um auf sich aufmerksam zu machen. Der vorderste Reiter zügelte sein Pferd und blickte auf Vared.
    „Was willst du, Bursche?" knurrte er alles andere als freundlich.
    „Banditen haben unsere Karawane überfallen, Herr! Meine Eltern und alle anderen wurden getötet!" brachte Vared mühsam hervor. Der Reiter legte den Kopf zur Seite und starrte Vared an.
    „Was geht mich das an, Bursche?!" antwortete er dann.
    „Ihr müsst Meldung machen, Herr! Die Räuber ziehen als gewöhnliche Händler verkleidet auf dieser Straße." flehte Vared ihn an, aber der Reiter wandte sich verächtlich ab.
    „Keine Gefahr, Herr!" rief er zu den anderen Reitern zurück, „Nur ein kleiner Bettler, der uns mit fremden Ärgernissen belästigt!" Vared glaubte nicht, was er da hörte. Menschen waren gestorben und diese Reisenden fühlten sich belästigt? Vared wich einen Schritt zurück, als der Fremde sein Pferd wieder antraben ließ. Auch die übrige Reiterschar zog an ihm vorbei. Niemand schien sich weiter um Vared zu kümmern.


    „Du hattest Glück, Junge!" sagte eine Stimme aus der Dunkelheit vor ihm.
    „Wer ist da?" fragte Vared erschrocken. Im nächsten Moment schien ein Teil des Schattens lebendig zu werden. Erst als die Gestalt direkt vor ihm stand erkannte Vared, dass es ein Mann war. Dieser grinste ihn an.
    „Dieser Großstadtpöbel hätte dich auch als Sklaven mitnehmen können!" fuhr er dann fort. Der Mann trug dunkle Kleidung und ein nachtschwarzes Cape.
    „Warum könnten sie das?" erkundigte Vared sich bei ihm.
    „Weil du kleiner Dummkopf ihnen verraten hast, dass deine Eltern tot sind!" erklärte der Mann ihm. Vared schluckte erschrocken.
    „Jedes elternlose Kind kann ohne Grund zum Sklaven werden, denn wer würde schon dagegen Einspruch erheben?!" verdeutlichte der Fremde ihm die Lage. Vared sah in dessen graue Augen, aber er konnte kein Falsch darin erkennen.
    „Aber die Räuber!" begehrte Vared noch einmal auf.
    „Das muss warten, Junge! Zuerst kommt immer das eigene Leben, weißt du?! Die Mörder deiner Eltern kannst du verfolgen, wenn du alt genug geworden bist!" erwiderte der Fremde warnend. Vared ließ seine Schultern hängen.


    „Woher weißt du das alles?" fragte er den Fremden müde.
    „Ich war nicht viel älter wie du, als meine Eltern starben. Ich lernte, auf der Straße zu überleben. Und das musst du auch, Junge!" antwortete dieser.
    „Ich heiße Vared. Wie darf ich dich nennen?" wechselte Vared das Thema.
    „Man nennt mich Slen, der Spieler. Aber du siehst hungrig aus, Vared." stellte der Fremde fest. Vared war zwar niemals in den Unterstädten, aber er hatte durch Altersgenossen schon von umherziehenden Spielern gehört. Allerdings ließ ihm sein Hunger keine Zeit für Überlegungen. Vared nickte nur heftig, als er das verdeckte Angebot hörte.
    „Normalerweise füttere ich zwar keine Waisen durch, aber im Augenblick habe ich mehr als genug Nahrung. Also komm, Vared." überlegte der Fremde namens Slen laut und schritt wieder in die Dunkelheit. Wieder war es Nacht geworden. Aber Vared war nicht mehr allein. Der Spieler teilte sein Nachtmahl mit Vared und unterhielt sich noch einige Zeit. Als Slen sich schlafen legte, lehnte Vared an einem Baum und dachte nach.


    Würde er in die Stadt gehen, dann bestand die Gefahr ein Sklave zu werden! Damit wäre seine Flucht sinnlos gewesen, da die Räuber ihn je auch als Sklaven verkaufen wollten. Somit blieb ihm keine große Auswahl. Slen hatte angeboten ihm einige Tricks und Kniffe zu zeigen. Vared musste lernen, alleine in der Welt zu bestehen. Sein voller Magen strahlte Ruhe aus und ließ Vared schläfrig werden. Ich werde euch nie vergessen, versprach er seinen Eltern bevor er endgültig einschlief.
    Ein neues Leben begann...


    Ende

    • Offizieller Beitrag

    Fortsetzung zu "Seltsame Begegnung"

    Jäger und Gejagte



    Die Wolken hingen tief und regenschwer über dem Land. Es hatte schon seit Tagen immer wieder starke Regenfälle gegeben, aber die Wolken über Talastan schienen unerschöpflich. In den Häusern und Tavernen mussten selbst am Tag die Öllampen brennen, da nicht der kleinste Sonnenstrahl die Wolken durchdrang. Eine kleine Gruppe von Reitern näherte sich langsam auf dem alten Handelspfad einer einsam gelegenen Taverne. Das Haupthaus und die Stallungen hatten gewiss schon bessere Tage gesehen, aber die Zeiten waren auch nicht günstig für den Handel. Die Unruhen, die ganz Talastan immer wieder erschütterten, machten die fahrenden Händler vorsichtig.
    Außerdem führten viele der Baronien ihre Kleinkriege mit Nachbarn, so dass die Handelsstraßen und -wege nicht mehr geschützt wurden. Damit sanken die Einnahmen der Wirte solcher abgelegenen Tavernen, da die Kundschaft knapp wurde. Als die Reitergruppe auf dem Hof der Taverne anhielt, eilte der Wirt ihnen geschäftig entgegen. Sein Gesicht drückte schon fast Verzückung aus.
    „Willkommen, ihr Herren! Willkommen. Tretet ein und wärmt euch am Feuer!“ rief er den Reitern entgegen, die gerade aus den Sätteln stiegen. Als sich dabei ihre nassen Umhänge öffneten, bemerkten die flinken Augen des Wirtes eine stattliche Anzahl von Waffen bei den Reitern. Da sie keine Uniformen trugen, konnten es nur Söldner sein. Dieser Tage waren viele Söldner unterwegs, um sich bei den Kleinkriegen zu verdingen.
    Einer der Reiter, offensichtlich der Anführer, wandte sich dem Wirt zu.
    „Euer Stalljunge soll sich zuerst um unsere Pferde kümmern, Wirt! Sie müssen gründlich abgerieben werden!“ forderte er und warf dem Wirt eine silberne Münze zu. Augenblicklich verschwand das Misstrauen aus den Augen des Wirtes, als er die Münze mit einer flinken Handbewegung fing und in seiner Tasche verschwinden ließ.
    „Es wird sofort geschehen, edler Herr!“ versicherte der Wirt mit einer Verbeugung und brüllte einen Namen über den Hof. Ein ziemlich magerer Junge kam aus dem Stall gelaufen und griff nach den Zügeln der Pferde. Während alle anderen ins Haupthaus gingen, blieb einer der Reiter bei seinem Pferd und nahm den Jungen kurz beiseite.
    „Sorge dafür, dass sich mein Pferd erst abgekühlt hat, bevor du es tränkst und fütterst!“
    Der Junge hörte an der Stimme, dass der Reiter eine Frau war. Als sie jetzt ihre Kapuze zurückschlug sah er auch, dass ihre roten Haare zu einem dicken Zopf geflochten waren.
    Die Frau zog eine kleine Münze hervor und gab sie dem Jungen, der daraufhin grinsend nickte. Erst jetzt ging auch die Frau hinein.
    Im Schankraum brannte ein Feuer im Kamin und verbreitete eine angenehme Wärme.
    Der würzige Geruch eines Kräutertees lag in der Luft. Der Wirt und eine Magd nahmen schon die Bestellungen der anderen auf.
    „Hey, Kareen! Warum setzt du dich nicht zu uns?“ rief einer der Männer der Frau zu.
    „Ich musste euch schon zwei Tage bei diesem Wetter ertragen. Jetzt brauche ich eine Pause“, erwiderte sie und nahm den feuchten Umhang ab. Ihre ganze Kleidung war durch die Regenfälle feucht und klamm geworden, so dass Kareen jetzt einem Bad den Vorzug gab.
    Eine zweite Magd führte Kareen aus dem Schankraum in den ersten Stock. Hier gab es ein spezielles Gemach, in dem ein Badezuber aufgestellt war. Nachdem eine weitere kleine Münze den Besitzer gewechselt hatte, bekam Kareen ihr heißes Bad. Während die Magd und ein weiterer Junge das heiße Wasser in Eimern heraufbrachten, legte Kareen langsam ihre Waffen ab und öffnete ihr Obergewand. Darunter kam ein schwarzer Lederharnisch zum Vorschein. Ärgerlich bemerkte Kareen die Feuchtigkeitsflecken auf dem Leder. Dieser Regen würde ihn noch gänzlich aufweichen. Als nächstes öffnete sie den Zopf und schüttelte ihr langes Haar aus. Als sie mit den Fingern durch ihr Haar strich, spürte sie viele kleine Knötchen. Sie würde es lange bürsten müssen!
    Endlich war der Zuber gefüllt und die Seife zurechtgelegt. Kareen legte den schweren Holzriegel vor, um jede Störung zu unterbinden.
    Rasch legte sie den Harnisch und den Rest der Kleidung ab und ließ sich in das heiße Wasser sinken. Ein wohliger Seufzer entrang sich ihrem Mund als das Wasser sie bis zum Hals umspülte. Ihre Gedanken wanderten träge von einem Ereignis zu nächsten. Der Mann, den sie verfolgten, kam ihr in den Sinn. Gareth ‘an’ Dodonna und seine Männer hatten sie als Fährtensucher gedungen, um einen Mann zu finden der die Tochter eines Kaufmannes geschändet hatte. Kareen fragte sich, warum es dem Kaufmann so viel wert war, diesen Mann zu finden. Es war schließlich nicht billig eine ganze Söldnertruppe für eine solche Suche zu dingen. Zudem hatte sie gehört, dass der Kaufmann zusätzlich noch ein Kopfgeld ausgesetzt haben sollte. Kareen schloss ihre grauen Augen und schob die Überlegungen beiseite. Vor wenigen Tagen hatten sie die Spur des Mannes gefunden. Er konnte nicht mehr viel Vorsprung haben. Sie würden ihn sicher bald fassen. Aber bevor es so weit war, wollte sie ihr Bad genießen und in einem Bett schlafen!


    Das kleine Feuer brannte unter großer Rauchentwicklung. Vared blickte verlangend auf den mageren Hasenleib, der leise zischend über dem Feuer garte.
    „Heute wird unsere Mahlzeit zugleich gebraten und geröstet!“ sagte Slen mit einem müden Lächeln. Vared blickte kurz vom Braten auf. Slens Gesicht wirkte ausgezehrt, aber wahrscheinlich sah er keinen Deut besser aus. Vor wenigen Tagen hatten sie durch einen glücklichen Umstand bemerkt, dass sie von einer Reitergruppe verfolgt wurden. Vared wusste inzwischen von der Geschichte mit der Kaufmannstochter, so dass er Slens Befürchtungen teilen konnte. Slen und er hatten einige deutliche Hinweise hinterlassen, um die Absichten der Gruppe zu erkunden. Sie waren tatsächlich hinter Slen her! Wo immer es ihnen möglich war, stellten die Reiter Fragen. Außerdem hatten sie einen guten Fährtenleser dabei, der eine falsche Spur zu erkennen wusste. Somit war den beiden nichts anderes übrig geblieben, als zu fliehen. So schnell wie möglich viel Abstand zwischen sie und die Verfolger bringen! Leider spielte das Wetter ihnen einen üblen Streich. Der Regen hemmte ihr Fortkommen und machte das Leben unnötig schwer. Die ständige Nässe kühlte sie aus und verhinderte das Schlafen. Bedauerlicherweise mussten sie die wenigen Herbergen umgehen, die in dieser Gegend Schutz vor dem Wetter boten. Slen spürte schon seit Tagen eine ungewöhnliche Hitze in sich, die nichts Gutes ahnen ließ. Wahrscheinlich hatte er sich eine Erkältung oder Schlimmeres zugezogen. Er brauchte ein heißes Bad und mindestens zwei Tage Ruhe in einem richtigen Bett, aber leider stand diese Möglichkeit nicht zur Debatte. Vielmehr sah es danach aus, als ob er sich noch tiefer in die nassen Wälder zurückziehen müsste. Das wäre auch für den Jungen nicht gut! Vared klagte zwar mit keinem Wort, aber Slen sah ihm an, dass er sich keineswegs wohl fühlte. Seit sie zusammen reisten, hatte Slen immer weniger an mögliche Verfolger denken müssen. Jetzt waren alle diese Gedanken zurückgekehrt.
    „Sollten wir den armen Hasen nicht endlich vom Spieß nehmen?“ drang Vareds Frage durch Slens düstere Gedanken. Er blickte verwirrt auf den Braten. Ein leichter Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Es wurde tatsächlich Zeit!
    „Deine Frage kam zur rechten Zeit, Vared. Hätte ich noch einige Minuten länger vor mich hin geträumt, dann hätten wir ihn zu der anderen Holzkohle ins Feuer legen können!“ sagte Slen lachend. Im nächsten Augenblick schüttelte ihn ein Hustenanfall.
    Vared beobachtete Slen besorgt.
    „Schon gut, Junge. Es geht gleich wieder“, versuchte Slen keuchend abzuwiegeln.
    „Du brauchst dringend Pflege, Slen. Bei diesem Wetter hältst du sonst keine zwei Tage mehr durch!“ widersprach Vared ihm vehement. Slen winkte müde ab.
    „Wohin soll ich deiner Meinung nach gehen? Eine Stadt oder ein Dorf gibt es im Umkreis eines Tagesmarsches nicht. Und in der Wirtschaft lagern bestimmt die Söldner“, fragte er ihn niedergeschlagen. Vared seufzte laut.
    „Das weiß ich auch, Slen. Aber wenn ich dich so ansehe, dann sehe ich die Söldner nicht als Hauptgefahr. Was nützt es, wenn du den Männern noch zwei Tage lang ausweichen kannst und dann sowieso stirbst?“ hielt Vared ihm vor. Slen hustete wieder. Vared nahm rasch den Hasenbraten vom Feuer und steckte ihn auf einen Stock zum Kühlen. Slens Schultern hingen kraftlos herab, als der Hustenreiz endlich nachließ. Seine Augen waren eingesunken.
    „Ich fürchte, du hast recht“, sagte er schließlich mit schwacher Stimme. „ Hier draußen habe ich keine Chance! Aber warum sollten die Söldner etwas gegen meine Krankheit unternehmen?“
    Seine Augen richteten sich wieder auf Vared. Der Junge grinste ihn zuversichtlich an.
    „Lebend wirst du ihnen einen größeren Profit einbringen, Slen. Aus diesem Grund werden sie dir schon helfen lassen. Außerdem bist du zu schwach, um zu fliehen“, erklärte Vared es ihm.
    „Ich kann darin keinen Vorteil entdecken, Vared“, gestand Slen offen.
    „Ich habe doch nicht gesagt, dass wir beide zu den Söldnern gehen! Während du dich in ihre Gewalt begibst, bleibe ich in der Nähe. Niemand kennt mich und ich werde auch nicht gesucht, richtig? Paß auf, ich habe mir folgenden Plan ausgedacht.“
    Während Vared seinen Plan erklärte, begann es wieder zu regnen...


    Kareen blickte gähnend aus dem Fenster. Draußen regnete es schon wieder. Sie waren nicht, wie von Gareth eigentlich geplant, an diesem Morgen aufgebrochen. Niemand hatte dagegen protestiert. Kareen wusste, dass die anderen Söldner mindestens ebenso froh wie sie darüber waren. Nicht einmal der alte Hund des Wirtes ging freiwillig hinaus.
    Ihre Augen verengten sich, als sie durch die dichten Regenschleier eine Gestalt auf dem Hof ausmachte. Ein Fremder? Sie hatte niemanden aus dem Haus gehen sehen. Die Gestalt lief irgendwie unsicher. Kareen beugte sich weiter vor. Nur zu deutlich konnte sie die bellenden Laute hören mit denen der Fremde hustete. Sie war keine Heilerin, aber sie erkannte die Symptome trotzdem. Der Fremde erholte sich nur langsam von dem Hustenanfall und ging schleppend weiter auf das Haupthaus zu. Kareen war sicher, dass es eine Lungenentzündung war, die dem Fremden seine Kräfte raubte.
    Unten im Schankraum entstand eine ungewöhnliche Unruhe. Eine hölzerne Sitzbank wurde krachend umgeworfen und eine aufgeregte Stimme rief etwas, dass Kareen nicht verstehen konnte. Ein einziger Fremder konnte doch nicht der Grund für derartige Aufregung sein.
    Neugierig verließ sie ihr Zimmer und ging die Treppe zum Schankraum hinunter.
    „Das ist er!“ vernahm sie Gareths laute Stimme. Sofort fügten sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammen. Der Fremde musste der Gesuchte sein! Gareth und zwei weitere Söldner standen mit gezogenen Schwertern vor dem tropfnassen Fremden. Die Situation wirkte eher lächerlich. Der Fremde schwankte leicht. Kareen konnte sein bleiches Gesicht unter der Kapuze des Umhanges sehen. Dieser Mann würde mit Sicherheit nicht kämpfen!
    Er wäre nicht einmal dazu in der Lage, wenn er gewollt hätte.
    „Gareth! Ich glaube nicht, dass dieser Mann dir gefährlich wird. Du kannst dein Schwert ruhig wieder einstecken. In seiner Verfassung kann er gar nicht fliehen!“ erklärte sie dem Söldnerführer ruhig. Gareth sah sie wütend an.
    „Das ist unser Mann, Fährtenleserin. Eine Menge Geld wartet auf uns, wenn wir ihn nach Yjan-Calliorn zurückbringen!“ knurrte er ohne sein Schwert zu senken.
    „Er wird es nicht bis dort schaffen, wenn er nicht vorher seine Krankheit auskuriert“, sagte Kareen ernst. Gareth knirschte mit den Zähnen, während er seine Wut zu beherrschen versuchte. Kareen wich seinem Blick nicht aus und es war schließlich Gareth, der seine Augen abwandte. Er atmete zischend aus und gab seinen Männern durch einen Wink den Befehl, die Waffen wegzustecken. Der Fremde lächelte ihr dankbar zu.
    „Freue dich nicht zu früh, Mädchenschänder! Wir werden dich Tag und Nacht bewachen!“ schnappte Gareth wütend. Zwei der Söldner packten den Fremden und schleppten ihn die Treppe hoch. Sie schlossen ihn in einer fensterlosen Kammer ein.
    „Auf die Gefahr hin, dich noch stärker zu verärgern“, begann Kareen. „Der Gefangene braucht einen Heiler. Je schneller dieser kommt, desto besser stehen seine Chancen den Gefangenen durchzubringen.“
    Sie wusste, dass Gareth ihr die Zurechtweisung vor seinen Männern nicht verzeihen würde und ihre jetzige Haltung noch Öl ins Feuer goss. Trotzdem musste sie es tun, wenn sie den Fremden am Leben halten wollte. Gareth sah sie lange an, dann nickte er zustimmend.
    „Wir werden den Heiler kommen lassen!“ brummte er übellaunig. Kareen nickte knapp und wandte sich langsam ab.
    Gareth beauftragte einen seiner Männer mit dem Botengang.
    Kareen ging in ihr Zimmer zurück und setzte sich nachdenklich ans Fenster.
    Dieser Fremde schien genau gewusst zu haben, dass die Söldner hier im Haus waren. Sie hatte keine Waffe und keine Habe bei ihm gesehen. An seiner Krankheit bestand allerdings kein Zweifel. Dieses Gasthaus war für mindestens eine Tagesreise die einzige Unterkunft in dieser feuchten Gegend. Aus diesem Grund hätte der Fremde nur hierher kommen können, aber irgendwie kam Kareen diese Überlegung falsch vor. Wäre es so einfach, dann hätte der Fremde doch auch schon früher herkommen können. Warum sollte er so lange warten?


    Vared beobachtete seit geraumer Zeit das Gasthaus. Außer das Slen hineingegangen war, hatte nur eine Person die Gebäude verlassen. Der Mann war nicht sehr glücklich über seinen Auftrag gewesen und hatte sich auf dem Hof ordentlich Luft gemacht. Aus seinen Flüchen konnte Vared das Ziel des Mannes heraushören. Demnach hatte der Plan bis hierher funktioniert! Nun wurde es für Vared Zeit, sich ein sicheres Versteck zu suchen an dem er auch vor dem Wetter geschützt war. Mit leichtem Bedauern wandte er sich vom Hauptgebäude ab und musterte den Rest des Gasthofes. Einzig der große Stall versprach so etwas wie Behaglichkeit. Vared seufzte tief und dachte sehnsüchtig an ein heißes Bad. Seine Mutter hatte ihn immer in ein heißes Bad gesteckt, wenn er draußen pitschnass geworden war. Ein Hauch von wohliger Wärme durchfuhr Vareds zitternden Körper.
    Er musste jetzt rasch ins Trockene, wenn er nicht auch noch krank werden wollte. Ohne noch länger zu zögern, lief Vared auf den Stall zu. Der Geruch von trockenem Heu stieg ihm in die Nase, als er durch das große Tor kam. Das stete Platschen der Wassertropfen blieb hinter ihm zurück. Pferde schnaubten leise und scharrten mit ihren Hufen. Vared schüttelte sich und nieste laut. Plötzlich bewegte sich ein Heuhaufen neben ihm. Vared zuckte erschrocken zusammen. Hatte man ihn doch erwischt?
    „Wer bist du?“
    Aus dem Heu schälte sich ein magerer Junge, der ihn mit verschlafenen Augen ansah. Vared atmete innerlich auf. Wenigstens war es kein Erwachsener!
    „Ich bin Tomak, der Stalljunge“, antwortete ihm sein Gegenüber. Noch wirkte er zu verschlafen, um auf Vareds Anwesenheit mit Misstrauen zu reagieren. Jetzt durfte er ihm keine Gelegenheit zu wach werden geben.
    „Ich soll die Pferde der Reisenden überprüfen!“ behauptete er frech.
    Der Stalljunge zuckte zusammen.
    „Ich habe alles so erledigt, wie der hohe Herr es mir aufgetragen hat!“
    Vared wurde von dieser Reaktion überrascht. Er wusste einfach zu wenig über die Situation in der Herberge. Hatte er bereits einen Fehler gemacht? Vorerst half ihm ein finsterer Blick.
    „Auch das Pferd der Frau!“ versicherte Tomak daraufhin.
    Vared bemerkte, dass sich eine Hand des Stalljungen in dessen Tasche verkrampft hatte. Erleichtert atmete er auf. Diese Haltung kannte er. So hatte er früher seine kleinen Schätze vor seinen Eltern verborgen!
    „Dann ist ja alles in Ordnung“, beschwichtigte er Tomak.
    Der Stalljunge entspannte sich etwas. Allerdings war er durch den Schreck munter geworden.
    „Ich habe dich gar nicht bei den Reisenden gesehen, als sie ankamen!“ Jetzt flackerte Misstrauen in seinen Augen.
    „Ich bin später nachgekommen, weil ich einen Auftrag auszuführen hatte!“ antwortete Vared. „Die Fährtenleserin wollte ein paar Markierungen gesetzt haben.“
    „Die rothaarige Frau ist Fährtenleserin?“
    „Nicht nur!“ Jetzt war er froh, dass Slen und er die Verfolger so genau in Augenschein genommen hatten.
    Das Misstrauen in den Augen des Stalljungen erlosch.
    „Darfst du nicht in der Herberge bleiben?“ fragte er unvermittelt. Vared blickte ihn überrascht an. Da wurde ihm eine Ausrede auf dem Silbertablett serviert. Er setzte ein bedauerndes Gesicht auf und ließ seine Schultern hängen.
    „Genau!“
    Tomak lächelte breit und verstehend. Derartige Reaktionen waren ihm offensichtlich nur zu gut bekannt. In Zeiten wie diesen war das Gesinde nur zu oft der Fußabtreter ihrer Herren.
    Gareth weigerte sich verbissen, dem Gefangenen die Fesseln abnehmen zu lassen.
    „Er ist ein Gefangener und bleibt es auch!“ fauchte er wild.
    Dabei ruhte sein Blick die ganze Zeit auf Kareen. Scheinbar wartete er nur auf einen weiteren Widerspruch von ihr. Doch sie hielt sich zurück. Zumindest war der Heiler geholt worden.
    Gareth grunzte zufrieden und kehrte in die Gaststube zurück. Dort gesellte er sich zu seinen Leuten, um den Erfolg zu feiern. Kareen zog da doch das Bett in ihrer Kammer vor.


    Auch der nächste Tag brachte starke Regenfälle. Der durchweichte Boden nahm das Wasser schon längst nicht mehr auf, so dass sich große
    Pfützen gebildet hatten. Das gleichmäßige Trommeln der Regentropfen auf dem Dach wirkte einschläfernd. Es dauerte länger als sonst, bis Kareen aus dem Bett fand. Und immer noch musste sie gähnen.
    „Dieses Wetter ist nichts für mich!“ seufzte sie und beugte sich über die Waschschüssel. Das kalte Wasser erfrischte sie zumindest ein wenig.
    Ohne großen Elan schlüpfte sie in ein grobes Hemd und weite Hosen. Ihre Lederrüstung wollte sie noch trocknen lassen. Nach kurzem Zögern schnallte sie den Waffengurt um ihre Hüfte.
    So sehr traute sie ihren Begleitern nun wieder auch nicht. Viel zu lange dauerte diese Jagd schon. In der letzten Nacht hatte sie die Schreie einer Magd gehört, sich aber rausgehalten.
    Jetzt interessierte sie der Gefangene. Wegen ihm war sie in dieses nasse Land gekommen. Aus irgendeinem Grund hatte dieser Slen die Bherrenschaften gemieden, nicht aber Delhytan. Sie vermutete, dass er einen Umweg wegen des Ishuun in Kauf genommen hatte. Aber warum er nach Sequail statt nach Yvern weitergezogen war, blieb ihr ein Rätsel. Möglicherweise war seine Krankheit ein Grund gewesen. Andererseits war er allein gekommen. Kareen hatte aber zwei Spuren gesehen.
    Gareth schien es nicht weiter zu kümmern, ihn interessierte nur die Belohnung.
    Als sie auf den Korridor trat, ruckte Drugen cer Rysbetha vor. Der blonde Krieger hatte wohl bequem an der Wand gelehnt.
    „Ah, unsere schöne Fährtensucherin“, begrüßte er sie.
    Ihre Hand hielt sich unauffällig in der Nähe des Dolches. Sollte er etwas Unüberlegtes versuchen...
    „Spar dir deine schönen Worte!“ gab sie warnend zurück. Übertrieben gerade ging sie auf die Tür zur Kammer des Gefangenen zu.
    „Gareth will nicht, dass außer dem Heiler jemand zu ihm geht!“ sagte Drugen und machte Anstalten, ihr in den Weg zu treten.
    Kareen funkelte ihn aus ihren grauen Augen an, so dass er stehen blieb.
    Ohne ein weiteres Wort betrat sie die Kammer.
    „Was...??!“
    Ihre Augen weiteten sich, als sie den Gefangenen erblickte. Gareth hatte ihm eine Würgeschlinge anlegen lassen, die seinen Kopf in eine überstreckte Lage zwang. Außerdem waren seine Handgelenke und die Füße an das Bettgestell gebunden.
    „Dieser elende Narr!“ fluchte sie laut und zog die Schlinge ab. Gareth schien in letzter Zeit seine Macht sehr gern zu demonstrieren.
    Der Gefangene atmete erleichtert durch, als sein Kopf in eine bequemere Lage rutschte.
    „Danke“, flüsterte er leise. Seine braunen Augen blickten sie klar an.
    „Warum hat Gareth das getan?“ fragte sie ihn.
    „Scheinbar musste er sich etwas beweisen“, antwortete er und versuchte ein spöttisches Lächeln.
    „Du wusstest doch, dass wir in dieser Herberge waren. Warum bist du trotzdem hergekommen?“
    „Mir blieb keine andere Wahl. Hierher, oder in das Dorf des Heilers. Bei den Regenfällen eine anstrengende Wegstrecke...“, Slen hustete.
    Von draußen erklangen Schritte. Kareen erkannte schon am Tritt, dass
    Gareth im Anmarsch war. Mit Sicherheit würde er wieder seine Macht
    angezweifelt sehen. Sie seufzte. Dieses Gebaren war so nutzlos!
    Vared schreckte hoch, als er laute Stimmen vernahm. Jemand gab draußen auf dem Hof Anweisungen.
    „Der Schmied soll die Ketten vorbereiten, Wirt. Ich will nicht, dass der Gefangene eine Möglichkeit zur Flucht hat!“
    „Selbstverständlich, Herr!“
    Ketten! Das war gar nicht gut. Warum bestand der Führer der Söldner nur auf ihnen?
    Vorsichtig schlich der Junge an die offene Scheunentür und riskierte einen Blick auf den Hof. Der Wirt strahlte übers ganze Gesicht und nickte eifrig. Demnach hatte er einen guten Lohn erhalten.
    „Wie lange wird der Heiler noch brauchen, bis er hier eintrifft?“ fragte der Anführer ungeduldig. Seine Augen wirkten verkniffen und er mied das grelle Licht. Wahrscheinlich hatte er in der letzten Nacht zuviel Wein getrunken!
    „Euer Reiter müsste mit dem Heiler zur Mittagszeit hier eintreffen, Herr! Um diese Zeit müsste der Bengel auch den Schmied erreicht haben.“
    Während der Wirt seiner Überzeugung Luft machte, trat ein weiterer Söldner aus dem Wirtshaus. Er marschierte direkt auf den Führer zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    Angenehm war ihm die Botschaft nicht, soviel konnte Vared an der aufsteigenden Zornesröte deutlich feststellen.
    „Kümmert Euch um die Aufträge, Wirt!“ schnauzte er den dicken Mann rüde an, dann eilte er hastig ins Haupthaus.
    Obwohl es für ihn nicht ungefährlich war, entschloss sich Vared, der Sache auf den Grund zu gehen.


    Mit einem lauten Krachen donnerte die Tür gegen die Wand. Im Türrahmen hatte sich Gareth aufgebaut und funkelte wütend ins Zimmer.
    „Was hat das zu bedeuten?“ knurrte er.
    „Ich sehe nach dem Gefangenen, da der Heiler noch nicht eingetroffen ist!“ antwortete Kareen ihm ruhig.
    „Das ist gegen meine Order!“
    „Ist es in deinem Sinne, wenn er stirbt? Der Kaufmann würde nur die halbe Belohnung zahlen!“
    Gareth mahlte mit seinen Zähnen. In seinen Augen fand ein innerer Kampf statt, aber schließlich siegte seine Gier.
    „Gut!“ schnaufte er. „Kümmere dich so lange um ihn! Aber wenn der Heiler hier ist...“
    „Werde ich das Zimmer nur mit deiner Erlaubnis betreten!“ vollendete sie den Satz. Gareth nickte knapp und verließ die Kammer wieder.
    Kareen bemerkte, dass der Blick des Fremden auf ihr ruhte.
    Sie ging langsam zur Tür und schob sie wieder zu.
    „Ihr scheint euch nicht sehr wohlgewogen zu sein“, flüsterte er mit müder Stimme.
    „Er fürchtet ständig um seine Vorherrschaft, dass macht ihn ziemlich unberechenbar.“
    „Dann solltet Ihr besser sehr vorsichtig sein“, mahnte er leise. „ Er hat so ein hinterhältiges Funkeln in den Augen.“
    Kareen hob überrascht eine Augenbraue.
    „Warum macht Ihr das?“ fragte sie.
    „Was?“
    „Diese merkwürdige Warnung vor Gareth! Erhofft Ihr Euch etwas davon, wenn wir einander misstrauen?“
    „War nur gut gemeint, Fährtensucherin. Weiter nichts!“
    „Ihr seid so anders, als ich erwartet habe“, erwiderte Kareen langsam.
    „So gar nicht wie der Frauenschänder, der ich eigentlich sein soll?“
    Der Gefangene blickte sie mit einem schiefen Grinsen an.
    „Das liegt wohl daran, dass ich nicht das getan habe, was man mir vorwirft!“ fuhr er fort. „ Aber danach fragte niemals jemand.“
    Ein Hustenanfall schüttelte ihn nach diesen Worten durch. Kareen gab ihm nach dessen abklingen etwas zu trinken.
    „Ihr solltet lieber nicht so viel sprechen“, ermahnte sie ihn. „Der Heiler wird erst gegen Abend hier sein können.“
    Danach versuchte sie mit ihren beschränkten Kenntnissen, es dem Fremden etwas leichter zu machen.


    Vared war dem Söldnerführer auf Umwegen ins Haupthaus gefolgt, so dass er die Szene in Slens Kammer nicht mitbekam. Dafür konnte er jetzt ein weitaus wichtigeres Gespräch belauschen.
    „Dieses Weib macht nichts als Schwierigkeiten!“ grollte der Anführer.
    „Aber wir haben jetzt doch den Spieler“, meinte ein Söldner. „Wozu brauchen wir sie dann noch?“
    Vared lief es eiskalt den Rücken runter. Waren das noch Menschen?
    „Was willst du damit sagen, Melas?“
    „Es könnte ihr leicht etwas zustoßen, Gareth! Ein kleiner, aber tödlicher Unfall!“ Der Söldner kicherte bösartig.
    „Es wäre sehr bedauerlich, sie ist schließlich eine schöne Frau!“ meinte ein anderer Söldner.
    „Vergiß es, Drugen! Sie wird sich nie zu dir legen!“
    „Hört mit diesem sinnlosen Geschwätz auf! Denkt lieber an ihren Anteil, den wir dann zusätzlich aufteilen können!“ wies Gareth sie zurecht. „Je eher wir sie loswerden, desto besser für uns alle!“
    „Es sind eben unsichere Zeiten, Gareth. Man munkelt von Angriffsplänen gegen Dawdwynd, da passieren schlimme Dinge!“
    Tiefer Ekel ergriff Vared bei dem Gelächter, das die Söldner daraufhin anstimmten. Er zog sich von seinem Lauschposten zurück und schlich davon.
    Diese Männer waren Untiere, denen man alle Schlechtigkeiten zutrauen musste. Andererseits schien diese Frau ehrenvoll zu sein. Sollte er sie warnen, damit sie sich vor der Heimtücke der Söldner schützen konnte? Oder gefährdete er dabei nur sich und Slen?
    Vared wusste es nicht, aber er würde eine Entscheidung treffen müssen!
    * * *


    Bis zur Mittagszeit hatte der Regen sich in einen leichten, aber permanenten Nieselschauer gewandelt. Es lag trotzdem nicht an dem Wetter, dass sich eine bedrohliche Stimmung in der Herberge ausbreitete.
    Die flinken Augen des Wirtes huschten beunruhigt zwischen seinen Gästen hin und her. Auch er spürte die Bedrohung, die fast greifbar in der Luft lag. Und er wusste diese Stimmung auch zu deuten, schließlich war er lange genug Wirt. Es würde Blut fließen!
    Vared versteckte sich noch immer im Haupthaus und beobachtete das Geschehen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, so dass er noch immer keine Entscheidung getroffen hatte. Außerdem war die Frau nie allein.
    Sorgten diese hinterhältigen Meuchler etwa schon dafür, dass niemand sie warnen konnte? Nein! Sie konnten nicht wissen, dass er ihre Pläne belauscht hatte!
    Als draußen auf dem Hof Hufgetrappel laut wurde, richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf die Eingangstür. Der Heiler musste eingetroffen sein! Vared blickte rasch zu der Fährtenleserin, die mit einem mal alleine auf der Galerie stand. Jetzt oder nie!


    Kareen blickte verstimmt in den Schankraum hinab. Offensichtlich wollte Gareth sie nicht mehr aus den Augen lassen! Irgendwer aus der Reitergruppe hielt sich ständig in ihrer Nähe auf. Und mit der Ankunft des Heilers aus dem Dorf war sie auch an ihr Wort gebunden.
    „Die Söldner wollen dich töten, Fährtenleserin!“ zischte eine Stimme neben ihr. Kareen wandte sich ruckartig um, doch es war niemand zu sehen!
    „Nachdem sie ihre Beute haben, wollen sie die Belohnung nicht mehr teilen!“ fuhr die Stimme fort.
    „Woher willst du das wissen?“ fragte sie leise. Dabei suchten ihre Augen weiter nach dem Besitzer der ziemlich hellen Stimme.
    „Ich hörte es mit meinen Ohren... direkt aus dem Mund des Anführers!“
    „Das kann jeder behaupten! Und um wie viel leichter noch, wenn die Stimme kein Gesicht hat!“
    „Ich vernahm die Stimmen eines Melas und eines Drugen, wie sie mit dem Anführer Gareth deinen Tod planten, Fährtenleserin!“ widersprach die helle Stimme eindringlich. „Und ich schütze nur mich selbst, indem mein Gesicht verborgen bleibt!“
    Kareen blickte wieder in den Schankraum hinunter, um die dort anwesenden Söldner nicht misstrauisch zu machen. Zuzutrauen wäre es diesen ehrlosen Halsabschneidern. Und Gareth? Vielleicht hatte sie ihn einmal zu oft in seinem aufgeblähten Stolz gekränkt. Er wäre einer solchen Arglist durchaus fähig, um seinen Jähzorn auszuleben!
    „Mehr kann und darf ich nicht tun!“ beendete die helle Stimme das kurze Gespräch. Kareen hörte das Rascheln von Kleidern, als der Unbekannte sich zurückzog.
    Mit einem trockenen Knarren schwang die Tür zum Haupthaus auf. Zwei Gestalten traten ein und schlugen fast gleichzeitig den Überwurf zurück, der sie vor dem Regen geschützt hatte.
    Ein Ylcar-Priester! Kareen zuckte unwillkürlich zurück. Sie hatte nicht erwartet, hier einen Robenträger anzutreffen! Sie musste ihm unbedingt aus dem Weg gehen, denn wenn er ihre Herkunft erfuhr...
    Ihre Gedanken kehrten zu der Warnung zurück, die man ihr gerade überbracht hatte. Jetzt wurde es tatsächlich sehr gefährlich für sie!
    Aber wenn sie schon fliehen musste, dann wollte sie den Söldnern nicht den Gefangenen so einfach überlassen. Ohne ihre Hilfe hätte sie der Spieler schon vor Tagen abgehängt. Sie zog sich rasch von der Balustrade zurück.
    Unten im Schankraum begrüßte Gareth den Priester, der gleichzeitig auch als Heiler fungierte.


    Kareen rannte den Korridor zum Zimmer des Gefangenen entlang, als ihr jemand den Weg verstellte.
    „Kein Zutritt, Fährtenleserin!“ grollte das lederne Gesicht eines Söldners. Sein Name war Narut, wenn sich Kareen richtig erinnerte.
    Ohne langsamer zu werden zog sie ihren Dolch und ließ dessen Spitze leicht über Naruts Hals streichen. Die Augen des Söldners weiteten sich, als er sein eigenes Blut hervor schießen sah.
    „Schlechter Zeitpunkt“, flüsterte Kareen, als sie an ihm vorbei war. Hinter ihr ertönte ein dumpfer Aufprall. Der Weg zu dem Gefangenen war frei!


    Slen blickte erstaunt auf, als die Tür zu seiner Kammer polternd aufgestoßen wurde. Die rothaarige Fährtenleserin stand leicht außer Atem im Türrahmen. Ein Blick in ihre Augen verriet ihm, dass etwas nicht in Ordnung war - von ihrer Warte aus gesehen!
    „Bist du stark genug zum Laufen?“
    Slen nickte knapp, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Was ging hier vor?
    Sie schien seine Gedanken nachvollziehen zu können.
    „Man will mich nicht nur um meinen Anteil bringen, sondern auch gleich töten!“ erklärte sie ihm kurz.
    „Was hat das alles mit mir zu tun?“ fragte Slen.
    „Im Augenblick bist du der Mittelpunkt, Spieler! Ich habe nicht vor, den Preis meiner Bemühungen diesen Verrätern zu überlassen.“
    „Das klingt wenigstens ehrlich!“
    Kareen musterte ihn einen Augenblick lang. Sollte sie sich in ihm getäuscht haben? Er erwiderte ihren Blick ruhig.
    „Jetzt ist nicht die Zeit für lange Erklärungen!“ zischte sie und durchschnitt seine Fesseln. Slen setzte sich auf und nieste lautstark.
    „Einverstanden“, murmelte er dann.
    Kareen warf ihm einen warmen Umhang zu, den er sich um den Körper wickelte. Sie musterte ihn kurz und kritisch. Besonders kräftig wirkte er nicht gerade, aber zumindest das Fieber schien seinen Körper verlassen zu haben.
    „Hat es wenigstens aufgehört zu regnen?“ erkundigte sich Slen.
    „Nein!“
    „Dann würde ich lieber meine Sachen anziehen, bevor wir dieses gastliche Haus verlassen!“
    Dieser Vorschlag klang vernünftig, auch wenn sie eigentlich nicht die Zeit dazu hatten. Sie würde nur ungern ihre Rüstung zurücklassen.
    Direkt vor ihr tauchte ein Junge auf, der die Sachen des Spielers auf den Armen hatte.
    „Hier sind deine Sachen, Slen!“ sagte er zu dem Spieler.
    „Ihr kennt euch?“
    „Vared ist die zweite Spur, der du gefolgt bist.“
    „Gareth kommt bereits mit dem Priester hier herauf. Ihr solltet euch lieber beeilen!“ drängte der Junge.
    „Durch den Schankraum kommen wir ja doch nicht raus...“ meinte Slen und griff nach einer Fackel, die erloschen in einem Wandhalter steckte. Mit Hilfe einer brennenden Kerze entzündete er sie neu und warf sie in den Gang. Der verschlissene Bodenbelag fing sofort Feuer und auch die hölzerne Wand.
    „ ...Das sollte sie aufhalten!“
    Trotz des tagelangen Regens war das Innere des Gasthauses so trocken wie altes Stroh und brannte auch so gut. Gierig leckten die Flammen an den Wänden empor.
    „Ich brauche meine Ausrüstung!“ sagte Kareen und rannte los. Aus irgendeinem Grund vertraute sie dem Spieler und dem Jungen.
    Slen schlüpfte rasch in seine Kleidung, die endlich wieder trocken war.
    „Was geht hier vor, Vared?“
    Der Junge grinste ihn schief an.
    „Die Kriegerin erwies sich als ehrlich, was man von dem Rest dieser verkommenen Bande nicht sagen kann! Als die Söldner einen Verrat an ihr planten, warnte ich sie.“
    „Wirklich eine gute Idee, aber in wie weit können wir ihr trauen?“
    „Sie trägt das Zeichen der Mytrill!“
    Slen blickte den Jungen überrascht an. Woher kannte er die Mytrill?
    Dieser Orden von Kriegerinnen war schon fast im Reich der Legenden verschwunden, nachdem der Ylcar-Glaube die Oberhand in Talastan gewonnen hatte. Die Mytrill verehrten eine heute namenlose Gottheit, die zu den Alten Göttern gehörte.
    „ Woher kennst du das Zeichen der Mytrill?“ hakte er nach.
    Vared blickte ihn direkt an.
    „ Kann ich nicht sagen, Slen. Ich wusste es einfach, als ich es sah!“
    Jetzt verstand Slen auch die plötzliche Eile der Fährtenleserin. Wenn der Heiler tatsächlich ein Priester Ylcars war, dann würde er sie erkennen, sobald er sie sah - und alle Macht auf ihre Vernichtung ausrichten!
    Aus dem Korridor ertönte jetzt wildes Geschrei, als man das Feuer entdeckte. Inzwischen war Slen wieder komplett bekleidet. Zusammen mit Vared ging er in der Richtung weiter, die von der Kriegerin zuletzt eingeschlagen worden war. Sie kamen an weiteren Zimmertüren vorbei, die alle geschlossen waren. Die Bewohner dieser Räume befanden sich anscheinend unten im Schankraum. Ziemlich am Ende des Korridors stand eine Tür offen. Dort musste sich die Kriegerin aufhalten.
    Dem Zischen und Prasseln nach zu urteilen war das Feuer eine sehr gute Ablenkung. Bis es endlich gelöscht sein würde, konnten sie schon ein gutes Stück entfernt sein.
    Aus dem Zimmer der Kriegerin erklang plötzlich das Klirren von Schwertern. Alarmiert traten Slen und Vared ein.


    Kareen hatte ihre Lederrüstung schon fast angelegt, als sie hinter sich ein schleifendes Geräusch hörte. Ihr geschultes Ohr erkannte das Schleifen als Ziehen eines Schwertes. Rasch wandte sie sich um.
    „Du wirst nicht entkommen!“ zischte Melas und deutete mit der Schwertspitze auf sie. Neben ihm zog Drugen seinen Dolch heraus.
    „Ihr habt es ziemlich eilig mit eurem Plan“, gab Kareen ruhig zurück. Ohne große Hast schloss sie die Schnallen ihres Brustpanzers. Leider lag ihr Schwert noch auf der Bettstatt und damit außer Reichweite. Dafür befand sich ein schmiedeeiserner Fackelhalter in ihrer Nähe.
    Mit einer fließenden Bewegung glitt Kareen zur Seite und brachte den Fackelhalter in ihre Hand. Noch aus der Bewegung heraus schwang sie den dreibeinigen Ständer nach oben und brach Drugen das Handgelenk.
    Mit einem Brüllen ließ er den Dolch fallen und kümmerte sich vorerst nur um seine eigenen Bedürfnisse.
    Kareen ließ den Fackelhalter wie einen Kampfstab um ihre Hüfte kreisen und blickte Melas auffordernd an.
    „Was ist denn nun, Melas?“ zischte sie ihn an.
    Für einen Augenblick hatte ihr rascher Angriff auf Drugen ihn wohl völlig aus dem Konzept gebracht. Aber er war lange genug ein Söldner, um diesen Zustand schnell abschütteln zu können.
    Seine Klinge stieß in einem tiefen Angriff auf Kareen zu und wurde mühelos von dem schmiedeeisernen Fackelhalter abgewehrt. Noch während Melas Klinge ins Leere glitt, setzte sie mit dem anderen Ende nach.
    Der seitliche Gesichtsschutz an Melas Helm knirschte, als der Fackelhalter hart aufprallte. Dabei konnte er noch dankbar sein, das keine der Fackeln um die Mittagszeit entzündet war, sonst hätte er zusätzlich noch einen Funkenregen zu den Sternen, die er jetzt schon sah, bekommen.
    Benommen taumelte er zurück und versuchte, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Kareen warf den schweren Halter hinter ihm her und sprang auf die Bettstatt zu.
    Drugen hatte sich trotz des gebrochenen Handgelenkes wieder aufgerafft und schleuderte einen zweiten Dolch in ihre Richtung. Durch ihre Bewegung ging der Wurf fehl! Kareen griff in einer Schulterrolle über die Bettstatt ihr Schwert und duckte sich auf der anderen Seite unter einem weiteren Messer weg.
    „Hinterhältiger Schurke!“ zischte sie und zog blank.
    Melas hatte die Zeit genutzt und die Benommenheit abgeschüttelt. In einem wilden Sprunghieb versuchte er durch bloße Kraft ihre Deckung zu durchbrechen. Aber Kareen dachte gar nicht daran, zu parieren! Geschmeidig glitt sie zur Seite und ihre Klinge schien Melas Arm fast zu umfließen. Im nächsten Augenblick trennte sich der Unterarm vom Rest des Körpers und flog samt Schwert auf die Bettstatt.
    Melas riss seine Augen auf und konnte nicht glauben, was er da sah! Mit seinem nächsten Lidschlag schoss ein Strahl roten Blutes hinter seiner Hand her.
    „Elende Hexe!“ keuchte Melas. Weitere Worte waren ihm nicht mehr vergönnt, denn die Klinge von Kareen zuckte mit einem Rückhandhieb über Melas Gesicht und Hals. Der Getroffene riss mit einem qualvollen Gesichtsausdruck seinen Mund auf, konnte aber keinen Laut mehr von sich geben.
    Kareen wirbelte herum, um sich dem zweiten Gegner zu stellen, musste jedoch von dieser Seite nichts mehr befürchten! Slen und Vared standen über Drugens leblosen Leib und blickten sie an.
    Kareen gab ihre Kampfpose auf und sammelte rasch ihre wenigen Habseeligkeiten ein.
    „Wir sollten uns lieber beeilen, bevor die anderen einen Weg zu uns finden!“ meinte sie dann gleichmütig und trat auf die beiden zu.
    „Ich mag sie!“ flüsterte Vared leise.


    In dem Durcheinander des Brandes war es den Dreien sogar gelungen dem Pferdestall einen Besuch abzustatten. In den nachlassenden Regenfällen des beginnenden Nachmittags ritten sie in Richtung Süden davon.


    Ende