20:03 Uhr – Gelände der Schule – Außerhalb des Haupttores
Shinji war wie gelähmt, als er seine Nase brechen spürte. Wie konnte es sein, dass ein Vampir ihn derart angriff? Das Ganze war doch bislang ein Spiel gewesen.
Das Gesicht seines Angreifers war ebenfalls blutverschmiert. Aber in dessen Blick war eine Befriedigung zu sehen, die dem Kampf einen ganz anderen Hintergrund verlieh. Seine Kontrolle über die Wahrnehmung der anderen war durch den Schmerz zerstört worden.
Als nun noch sein eigenes Blut in seinen Mund gelangte verschwand die Lähmung aus seinem Körper und machte einem Kampfrausch Platz, den er seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Sein spielerischer Umgang mit anderen verschwand in einem anderen Teil des Bewusstseins und machte dem reinen Kampfeswillen Platz.
Mit einer enormen Anspannung seiner Arme hob er den Körper des auf ihm hockenden Vampirs an und brachte sein freies Bein als Hebel darunter. Mit aller freigewordenen Kraft schleuderte er den Körper von sich, während dieser weiter auf ihn einschlug. Das Blut rauschte in seinen Ohren während er auf die Beine sprang. Aber er hatte den anderen Vampir für einen Moment vergessen!
Samusa hatte sich von dem harten Aufprall an der Mauer wieder soweit erholt und verpasste Shinji einen harten Aufwärtshaken, der den Reinblüter regelrecht vom Boden hob.
Yume Tsuyu verfolgte das Geschehen vor ihren Augen nur mit halber Aufmerksamkeit. Sie war in ihrem Inneren völlig durcheinander.
Wo war nur ihr kühles Selbst von früher, dass zu allem immer einen gewissen Abstand hielt?
Und warum ging es ihr augenblicklich so nahe, wenn Samusa dort vorne beim Kämpfen verletzt wurde?
All diese verwirrenden Gefühle in ihrem Inneren hielten sie beschäftigt. Wo sie einmal eine leichte Traurigkeit in den langen Stunden ihrer Einsamkeit verspürt hatte, war da jetzt eine ständige Unruhe. Sie konnte es nicht bewusst erfassen und hatte es anfangs für Auswirkungen ihrer Trauer gehalten.
Aber irgendwie war es gar nicht mehr so schlimm, dass der eine ohne ein Wort gegangen war. Etwas schien diese Lücke auszufüllen, ohne dass sie es in Worte kleiden konnte.
Als Samusa wieder zum Angriff über ging, spürte sie eine heiße Welle des Ansporns in sich und beinahe hätte sie laut gejubelt, als der Reinblüter vom Boden abhob und mit einem Krachen in einer Tür landete, die mehrere Meter hinter ihm gewesen war.
Takeya hielt Chinatsus Hand, während diese wie gebannt auf den Kampf blickte. In ihr erwachte eine Erinnerung an die Zeit, als Shinji sie wie ein Eigentum gehalten hatte. Der leicht überhebliche Zug um seine Mundwinkel war jetzt vollkommen verschwunden, nachdem er bereits mehrfach von den beiden anderen getroffen worden war. Chinatsu spürte eine wilde Zufriedenheit in sich, als Shinji bluten musste. Ihre Erinnerungen waren noch immer blockiert, obwohl sie einen winzigen Fetzen zurück erhalten hatte. Aber alleine die Erinnerung an ihre Hilflosigkeit zu diesem Zeitpunkt gefiel ihr überhaupt nicht. War es vielleicht besser, wenn sie gar nicht weiter nach ihren verlorenen Erinnerungen suchte und stattdessen mit Takeya im Hier und Jetzt lebte?
Chinatsu empfand ein warmes Gefühl bei diesem Gedanken.
Empfanden die anderen um sie herum möglicherweise ähnlich? Sie wussten noch immer nicht, was dieser Fluch für einen Zweck haben sollte. Besonders, da er Vampire und Menschen gleichermaßen betraf. Aber Chinatsu wusste wieder, das Shinji solche Zauber bereits benutzt hatte.
Würde er auch irgendetwas von den anderen hier Versammelten wollen, dann wäre ihrer aller Problem gelöst. Doch Chinatsu wusste, dass es nicht so einfach sein würde.