Hi,
Vor einiger Zeit kam ein Lied Namens „Amok Zahltag“ im Internet an die Oberfläche. Ein engagierter junger Mann Namens „Kaas“ rappt darin über die wahren Begebenheiten der Amokläufe, versucht sich in Amokläufer hineinzuversetzen und zeigt Verständnis für ihre Aktionen, die eher als Reaktionen gewertet werden können.
Die Gefühle werden gezeigt, und die Gründe, warum man sich überhaupt in eine Scheinwelt aus Musik und Drogen flüchtet. Die Botschaft ist eindeutig: Solche Amokläufe wären nicht möglich (und nötig!), wenn die ganze Gesellschaft nicht aus einem System der gegenseitigen emotionalen Unterdrückung bestehen würde, wenn also nicht ein extrem hoher Anpassungsdruck herrschen würde, und die, die außergewöhnlich, also individuell sind, sich in dieser Gesellschaft auch gut zurechtfinden würden.
Die „Winner“ dieses Faktes, dieser Gesellschaft, sind zahlreich, und sie werden immer mehr. Und wo viele „Winner“ sind, müssen logischerweise auch viele Loser sein, schließlich wird Erfolg immer auf dem Rücken vieler anderer erreicht.
Anpassung ist Zwang, und wir zwingen uns nicht gerne. Wir wollen tun, was wir tun wollen, wenn wir aber glauben, wir müssten tun, was wir tun, so werden wir keine Erfüllung darin finden.
In den Schulen, gerade auch in den wohlhabenden Teilen, herrscht mittlerweile ein Klima, dass für manch einen gut erscheint, tatsächlich aber für den Außenseiter die absolute Hölle ist. Kaas spricht es an, wenn ein Außenseiter es schafft, für seine Peiniger Verständnis und Liebe aufzubringen, so wird für ihn die Welt von der Hölle zum Himmel, doch es ist schwierig Menschen zu vergeben, die einem scheinbar absichtlich jede Freue am Leben rauben und, so scheint es einem Amokläufer, am liebsten in den Selbstmord treiben wollen.
Es gibt tausende Menschen die jeden Tag mit gebeugtem Haupt gehen, die von den anderen verlacht werden, und die sich das wirklich zu Herzen nehmen.
Wir erzählen den Menschen, sie seien für ihre Handlungen verantwortlich, doch das ist so nicht richtig. Ein junger Mensch wurde ja nicht zu dem Mensch, der er ist, weil er das wollte, sondern weil die Gesellschaft ihn zu dem gemacht hat, was er ist; zuvorderst seine Eltern, dann seine Lehrer, und natürlich auch seine Mitschüler. Wie soll jemand verantwortlich für Handlungen sein, die er in erster Linie als Reaktion auf die Handlungen anderer vollzieht?
Ein Amoklauf ist kein individuelles Versagen, es ist nicht die Schuld eines Computerspiels (wie sollte es auch), es ist nicht die Schuld einer Musikrichtung oder Gruppe, es ist kollektives Versagen, es ist die „Schuld“ von uns allen, und doch wieder von jedem einzelnen. Doch weil jeder dem Individuum erzählt, er sei nur für sich selbst verantwortlich, glaubt er das auch; weil aber alle anderen ihn zu hassen scheinen, fängt er auch sich selbst zu hassen, er stellt das Urteil der anderen als das eigene, schließlich haben ihn die anderen sein Leben lang konditioniert.
Der einzige Ausweg scheint ihm zu sein, allen seinen Peinigern, die ihn als „schwach“, „erbärmlich“ ansehen, als „Loser“, eine Lektion zu erteilen – und am Ende eben auch sich selbst. Es gibt für einen Menschen kaum etwas schlimmeres als seine Mitmenschen zu töten, seine eigenen Artgenossen, dementsprechend liegt es nicht fern, dass einiges vorher passieren muss.
Die Wut, der Zorn gegen sich selbst schlägt um in Wut und Zorn gegen alle anderen. Der Hass und die Liebe, die durchweg unterdrückt wurden, kommen raus, und gerade die, die ihr Leben damit verbrachten, jedem ihre Schwäche zu zeigen, zeigen nun das erste mal ihre Stärke.
Es ist der letzte Hilfeschrei des Individuums gegen das Kollektiv, für das Kollektiv. Der letzte Schrei nach dem, was er sein ganzes Leben wollte, Anerkennung für das, was er ist, nicht für das, als was andere ihn gerne sehen würden.
Kaas sagt in seinem Text die Wahrheit, sagt in seinem Rap das, was „Sache“ ist. Die Reaktion der Gesellschaft ist absolute Ächtung und Verbannung, Zensur, auch Selbstzensur. Kaas selbst hat gemerkt, dass er das Lied nicht im Internet stehen lassen konnte, wollte er nicht komplett ausgeschlossen werden.
Jene, die stets die Wahrheit sagen, gelten in dieser Gesellschaft als verrückt. Das hat gute Gründe.
Falls das hier zufällig jemand lesen sollte, der genauso ein Außenseiter ist wie so viele, der glaubt, er sei deshalb nichts wert, der der Ansicht ist, er selbst müsse sich dafür hassen, was er ist, dem sei gesagt, dass es Menschen auf diesem Planeten gibt, die für jeden Verständnis aufbringen, die versuchen jeden zu verstehen und die überall das gute sehen. Die sich nicht damit abfinden, in das gesellschaftlich vorgefertigte Maß zu passen, die versuchen, niemals schlecht über andere zu reden, die den Mut haben, das gute zu tun, und dafür keinerlei Lohn verlangen.
Glaubt an euch, glaubt an das Gute, auch wenn es scheinbar gar nicht existiert. Es gibt noch Hoffnung, selbst in diesem System.
Gruß ...